Die Mutfrage

Stephané Hessel ist tot.

„93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement erwachsen ist...“
Das sind die einleitenden Worte seines gerade einmal 29 Seiten umfassenden Lehrstückes „Empört euch!“ Nicht viele Worte. Aber sie haben viel und viele bewegt.

Als ich mir das kleine Heftchen damals in der bereits 6. Auflage in Weimar in der Eckermann-Buchhandlung kaufte, setzte ich mich damit ins Café am Frauenplan und las es in einem Zug durch. Im Rücken hatte ich die Sonne und das nicht einmal 10 km entfernte KZ Buchenwald, welches Hessel überlebt hatte. Ich war aufgewühlt.
Gelernt hatte ich: politisch denken und handeln. Mit dem Denken hatte ich nie Probleme, beim Handeln jedoch ziehe ich es vor, wenn es darauf ankommt mich auf meine Künstlerseele zu berufen: ich bin ein sensibler und ängstlicher Mensch. Ich vermeide Konflikte und Konfrontationen; ich brauche die Harmonie. Wenn ich aus dem Hinterhalt rufen kann, dann tue ich es gern. Aber man stelle mich bitte nie nach vorn oder verlange von mir dass ich einen Stein werfe, und sei er auch nur verbal. Wenn mich meine politisch aktiven Freunde im Berlin der frühen 90er zu den allseits beliebten Mai-Demos schleiften und ich dort eingekesselt von Polizisten zwischen Kurden auf der einen und Nazis auf der anderen Seite meine ersten Panikattacken erlitt, dann hasste ich sie wochenlang dafür. Mein Harmoniegefühl war gestört, und ich musste jedes Mal literweise Bachblüten schlucken und im Lotossitz Mantras aufsagen bis ich wieder einigermaßen hergestellt war. Kämpfen ist einfach nicht meins, und wenn ich mich manchmal als „Salonkommunistin“ bezeichne, dann meine ich das auch so. Denn wenn man es als 18–jährige ohne Blessuren aus einem politischen Gewaltsystem in die Freiheit geschafft hat, wenn man endlich Zugang zum weltweiten Heiratsmarkt sowie zu allen Büchern hat die man schon immer lesen wollte, wenn man noch dazu den ganzen Tag trällern darf und damit sogar Geld verdient, dann sollte man einfach nur dankbar sein und ansonsten die Klappe halten wenn es anderswo auf der Welt weniger schön zugeht.

Dann also Hessel. Ich las mehr über ihn und sah mir Interviews an; so richtig konnte ich das Mysterium eigentlich nie begreifen, welches von ihm ausging. Ich erinnere mich aber an dieses elementare Gefühl, welches er in mir auslöste: Ich wollte plötzlich noch jemand anderes sein als ich schon war: nicht nur jemand, der im Wolkenkuckucksheim einer Kulturhauptstadt hockt und sich den schönen Künsten widmet – nein! Jemand, der etwas bewirkt in der Gesellschaft, der sie zum besseren hin mitverändert. Ach ja, das klingt jetzt pathetisch, aber so wars.

Es gibt heute mehr denn je Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen, ohne sich irgendeiner Gefahr auszusetzen. Man muss nicht einmal mehr mutig sein. Organisationen wie "Avaaz" machen es einem so leicht wie nie, seine Stimme zu erheben. Statt dämliche Katzenbilder zu teilen kann man Facebook benutzen um auf Missstände und Unrecht in aller Welt hinzuweisen und auf politische Systeme einzuwirken. Ich glaube nicht mehr daran, dass ein Einzelner nichts bewegen kann, weil wir mit den derzeitigen medialen Mitteln erstmals in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeiten haben, innerhalb weniger Stunden aus einer Stimme eine Million Stimmen zu machen. Man muss nicht einmal global denken, man muss nur um die Ecke schauen:

Wenn sich alle, aber auch wirklich alle meine Bekannten und Freunde hier in Wien auch heute wieder tagesaktuell im Gespräch darüber aufregen, wie Österreich mit seinen Flüchtlingen und generell mit Menschen aus sogenannten Drittstaaten umgeht, sich jedoch seit langem nichts, aber auch gar nichts an dieser Situation ändert, dann möchte ich sie fragen: Was ist los mit euch? Woran liegts?

Ich bin irgendwie gehemmt, in einem Land, in welchem ich selbst Gast bin, meine Stimme zu erheben und die hiesige Politik offen zu kritisieren. Vor zwei Wochen war ich bei einer Demonstration gegen die derzeitigen unmenschlichen Abschiebegesetzte dieses Landes. Weil es nämlich – um mit Slavoj Zizek zu sprechen – nichts anderem als dem Faktor x, also einem glücklichen Zufall zu verdanken ist dass ich in Deutschland geboren wurde und deshalb anders behandelt werde. Und weil bereits hier eine Solidarität anfängt, zu der Hessel in seiner Schrift aufruft:

„Die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 niedergelegten Rechte sind universell. Wann immer sie jemandem vorenthalten werden, und ihr merkt es: Nehmt Anteil! Helft ihm, in den Schutz dieser Rechte zu gelangen!“

Aber was ist das schon, auf eine Demo zu gehen. Ich wäre gerne noch viel mutiger. Tja, Mut. Da sind wir bei der Kernfrage. Wird man schon mutig geboren? Oder wird man mutig wie Hessel, indem man den Naziterror überlebt? Was macht einen mutigen Menschen überhaupt aus? Wir haben heute vor so vielen Dingen Angst. Seltsamerweise vor den falschen. Wir registrieren kaum mehr Fukushima, aber wir haben Angst vor Viren, bevor diese überhaupt ausgebrochen sind. Diese Welt ist so verrückt, dass ich mich manchmal frage, wie ich so glücklich in ihr leben kann.

Dass mich Hessels Tod betroffen macht ist nicht die Tatsache an sich. Es ist das Wissen, dass mit ihm jemand gegangen ist der anderen Mut gemacht hat selbst mutig zu sein, und dass an seinem Platz eine Lücke sein wird. Aber er hat uns etwas aufgetragen.
Tun wir es. Empören wir uns!

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Aha,
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Vielen lieben Dank, aber...
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