Schreiben. Eine Erregung. Kapitel 1-6

1.

Was stöhnt sie denn?"
"Sei still, sie weint."

So wie sich das Wasser überlaufend an die Ränder drängt, so sammeln sich Wörter, verdichten sich, wollen hinaus und geschrieben werden. Aber warum, und zu welchem Zweck? Wen drängt es, dieses Geweinte zu lesen? Wer will teilhaben an ihm? Und - darf man diese Frage stellen, als Schreibender? Hat sie je einer gestellt, den es drängte, der schreiben musste?
So fragt sich einer, der es doch wissen müsste. Den das Schreiben selbst am Leben erhält, dem es Balsam und Gift zugleich ist.

"Schreib!" hatte er gesagt. " Wenn du nicht schreibst, wird es dich umbringen. Aber es bringt dich auch um wenn du schreibst. So oder so. Du kannst nirgendwo hin. Je früher du beginnst, desto besser."

Das war vorgestern.

---------------------------------------------------------------------------------------------------

2.
"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heißt ein
Altes Liedchen - "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht!"...

Sie trennte dem Fisch den Kopf ab, und als wäre das nicht genug, stach sie ihm langsam mit einem spitzen Messer auch noch die Augen aus. Damit er sein eigenes Leid nicht mit ansehen muss, sagte sie. Ich trug zwei Teller zum Tisch, während sie den Fisch in der Pfanne wendete. Das war mittags.

So, wie man ein Kind mit sich herumträgt, neun Monate im Leib. So trage sie ihre Geschichte mit sich herum, hatte sie gesagt. Doch die Angst hielte sie davon ab, zu schreiben. Die Angst, dass sich alles Bahn brechen würde. Dass sie den Lauf der Dinge nicht würde voraussehen können. Dass die Geschichte sich dann selbst schriebe, sie wieder einholen würde. Und mit ihr alle Anderen, die darin vorkämen.

---------------------------------------------------------------------------------------------------

3.

"Auch meinen Schlüssel nahmen sie hinweg,
die Himmlischen,
und warfen ihn ins Meer."


Heute klingt ihre Stimme ein wenig freier. Sie hätte angefangen, sagt sie. Mitten in der Nacht sei sie aufgewacht und hätte zu sich selbst gesagt : Jetzt ist es soweit!
Sie sei aufgestanden, langsam, sei ins Nebenzimmer gegangen, um sich ein Blatt Papier zu holen und den gelben Bleistift. Er hätte schon ewig dagelegen, mehrere Zeiten lang. Jetzt nahm sie ihn auf, prüfte seine Spitze, die sie sich in den Finger drückte, und roch an dem lackierten Holz. Ein Geruch, der sie noch immer an die ersten Tage ihrer Schulzeit erinnerte. Ganz ruhig sei sie auf einmal gewesen. Ihre nackten Füße auf dem Holzfußboden, die kühle Nachtluft, welche durch das Fenster hereindrang und ihren unbekleideten Körper streichelte, das sanfte Licht der Straßenlaterne, welches von draußen ins Zimmer fiel, all dies hätte ihr die Gewissheit gegeben, dass es jetzt gut sei. Dass der Moment gekommen wäre, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte. Dann sei sie zurück ins Bett gestiegen
und hätte begonnen. Einfach so.

Ob es ihr nichts ausmache, sich mir so ganz und gar anzuvertrauen, zu reden angesichts der Bedrohung meines Schweigens. Und ob sie nicht befürchte, sich mir untertan zu machen durch ihren Drang, sich zu offenbaren.
"Warum fragen Sie? "
Und dann, nach einer Weile:
"Nein. Was soll mir noch geschehen?"

einäugig die Vorsicht:
Geheimes versenkend
nicht achtend aber
flaches Gewässer

Stille! Sie ahnt.


---------------------------------------------------------------------------------------------------

4.

"Durch jene schmale Öffnung
dringest du zu einer Höhle,
deren Innerstes verwahrt
dein Buch des Lebens. -

Nun eile!"


Die Erinnerungen kamen langsam, zuerst bruchstückhaft, später flossen sie durch sie hindurch und drängten sich schneller auf, als sie schreiben konnte. Manchmal musste sie die Ordnung der Ereignisse erst wiederfinden, ihren Ablauf rekonstruieren. Ein Ereignis jedoch stand unverfälscht und unverrückbar im zeitlichen Ablauf der Dinge vor ihrem geistigen Auge. Es hatte all die Jahre im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses überlebt und hartnäckig jedem Versuch seiner Verfälschung, Beschönigung oder gar Bereinigung durch allzu beflissene Therapeutenhände widerstanden. Jetzt schrieb es sich sozusagen selbst hinaus. Sie musste nichts tun, nichts in Worte fassen oder nach einer Sprache suchen, sie musste nur diesen dunklen Gang in ihrem Innern freihalten und darauf achten, dass kein Gedanke die Übertragung der Aufzeichnung störte.

Nachdem wir uns bereits am Morgen gesehen hatten, fiel ich in einen Schlaf, der den ganzen Tag andauerte bis zur Dämmerung. Das Zimmer war erfüllt von einer seltsamen Einsamkeit. Ich dachte an ihre dunklen Augen, die halb geschlossen waren wenn sie redete und die eine Art Traurigkeit in sich bergen, von der man selbst befallen wird wenn man nicht wegschaut. Vielleicht muss ich davon ausruhen, von dieser Schwäche, von ihrer Zerbrechlichkeit, an welcher ich ja in gewisser Weise teilhabe, jetzt, da sie mir ihre Geschichte erzählt. So wie alle Menschen aneinander teilhaben, wenn sie sich erst einmal in das Innere des Dschungels begeben um sich dort ihre Geschichten zu erzählen. Ob sie es nun wissen oder nicht.

--------------------------------------------------------------------------------------------------------

5.


"Seid ihr alle da?"
"Zähl nur, Schwester - ja!"


Der erste Schultag nach den Ferien war ein warmer, sonniger Augusttag. Sie lief durch die Pfützen, die sich im aufgerissenen Schotter der Straßen gesammelt hatten und versuchte, so genau und vorsichtig in das Wasser zu treten, dass es nur ihre Schuhsolen, nicht aber die weißen Strümpfe benetzte. Sie hatte diese Art zu gehen als ein Spiel erfunden, sie wettete jedes Mal mit sich selbst, ob sie es schaffen würde, sich nicht die Strümpfe zu beschmutzen, und als sie durch das schwere Eisentor in das Schulgebäude eintrat, triumphierte sie.
Der Lärm auf den Gängen verteilte sich zugleich mit den Kindern nach und nach in die Klassenzimmer. Die Luft vibrierte von der Aufregung des ersten Schultages, es roch nach frisch gedruckten Büchern, Umschlägen aus Plastik und Bleistiften. Dieses Zukunft verheißende Lachen der Kinder, hier würde es immer zu finden sein, innerhalb dieser Mauern gab es keine Leere, keinen Tod. Der schrille Ton der Schulglocke zerriss die Luft, und nach und nach schlossen sich alle Türen.
Nur sie war in keines der Zimmer gegangen.
Sie stand allein in der Mitte des langen Flures und versuchte sich zu erinnern, in welche Klasse sie gehörte. Sie presste ihr heißes Gesicht gegen den grauen kühlen Lack der Tür, ihr Ohr versuchte vergeblich ein Geräusch einzufangen, eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. Laut las sie die Nummern der Klassenräume, die ihr jedoch nichts sagten, ebensowenig wie die bunten Bilder an den Türen. Sie wusste mit einem Mal nicht mehr, wie sie hierher gekommen war. Alles, der Name ihrer Lehrerin, die Zimmernummer, der Schulweg, jedes Ereignis löste sich allmählich in verschwommene Nebel auf, sobald ihr Verstand danach fassen wollte. Sie durchsuchte angestrengt jeden Winkel ihres Gedächtnisses nach brauchbaren Spuren, die sich jedoch sofort in die Unendlichkeit des Vergessens verkrochen, sobald sie ihrer habhaft zu werden glaubte. Die Einsamkeit des Flures kroch an ihren weißen Strümpfen herauf, legte sich allmählich an die Ränder ihres Körpers und wurde nach und nach zu ihrer einzigen Gewissheit. Während sich ihre Augen weiteten und kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichneten, zählte der Zeiger der Schuluhr eine Zeit, welche schon nicht mehr die ihre war.
Und während sie auf der frisch gebohnerten Treppe saß, die zum zweiten Stock des Gebäudes führte, (diese Treppe war ihre einzig Verbündete in diesem Moment, und noch Jahre später bewirkte der Geruch von Bohnerwachs eine sofortige und totale Entspannung bei ihr), während sie also auf dieser Treppe saß, da fiel sie langsam aus der Zeit heraus.

Es gibt Tage, an denen haben wir nichts zu sagen oder wir können über das, was uns bewegt, nicht sprechen. Gestern kam sie sehr spät. Sie sah mich versonnen aus ihren schmerzdunklen Augen an, während wir nichts taten als da zu sein und zu schweigen. Und dann hörten wir einfach Musik. Musik, von der irgendjemand einmal sagte, dass sie die Fähigkeit habe das auszudrücken was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen.
Das war gestern.


Blind nun
Kairos im fliegenden
Wechsel der Gedanken
so sag mir an

was zwischen uns gewesen


--------------------------------------------------------------------------------------------------

6.


"Sie gütig, Schwester, wir verschuldens nicht;
sie fehlt uns schon seit gestern!"


Weil sie es nicht besser wussten, diagnostizierten die Ärzte des städtischen Hospitals schließlich eine Hirnhautentzündung. Irgendwann fand sie sich in einem Bett wieder, welches an einer weißgetünchten Wand stand. Hinter der Wand war es Nacht. Von dem Ereignis blieben ihr nur einzelne Wörter als Gedankenfetzen, welche sie leise vor sich hin sprach. Dann ruhte sie aus von ihrer Reise.
Die Ärzte schrieben die hochgradige Erregung ihrer Sinne dem Fieber zu und verordneten Bettruhe. So bemerkte niemand das immer öfter stattfindende Reisen des Kindes in eine andere Wirklichkeit, und selbst einem aufmerksamen Beobachter hätte sich dieser Umstand entzogen. Das Kind selbst sah sich außerstande, eine Erklärung für dieses Phänomen zu finden, es verstellte seine Welt so ganz und gar, auch widersprach es allen seinen bisherigen Erfahrungen. Es blieb ihm ein Rätsel, und nachdem es durch sich selbst nichts darüber erfahren konnte und ohnehin ahnte, dass das Bekanntwerden seines Zustandes einer baldigen Entlassung nicht förderlich war, beschloss es zu verstummen und gab sich einer Sprachlosigkeit anheim, welche es nie mehr ganz verlassen würde und erst Jahrzehnte später vom Schreiben abgelöst werden sollte.
parallalie - 31. Jul, 21:18

und wenn ich nicht eile?
wartet es nicht?
ist sie denn schmal genug
die öffnung?

ich will es ja stehlen!

(variante zu dem, was ich am 20.2.2007 schrieb)

Terpsichore - 31. Jul, 21:45

schmal
nicht
und breit
nicht
nur tief
allzeit
parallalie - 31. Jul, 22:00

steinsekunden
donnersekunden

brunnenmeter
gewitterkilometer

ist sie auch hoch?
Terpsichore - 2. Aug, 00:58

ich möchte so geliebt
nicht sein
dass jemand sich
aus dieser Höhe
zu meinen Füßen
stürzt
schreiben wie atmen - 31. Jul, 22:07

Das Zimmer war erfüllt von einer

leeren Einsamkeit.
Wie mich das birgt und schützt.
Wie es mich herabbringt von den
gefährlichen Felsklüften
der Zweisamkeit.
Wie dieses erfüllte Zimmer
mich entleert
von jenem Zweiten,
das meine Haut ritzt
mit seiner Anwesenheit.
Von jenem Zweiten,
von jenem ICH,
das sich
als DU
entpuppte.

Terpsichore - 31. Jul, 23:58

das ich
zu suchen
geht
durch viele räume

wie Hüllen
streift es
alle und lässt
fallen eine

nach der andern
findet es doch
nur
sich selbst

da
hinter der Zimmerwand


BEITRÄGE

Die Andere
Wir sind viele und...
Terpsichore - 29. Nov, 10:28
...
So, what would Wittgenstein...
Terpsichore - 17. Jan, 09:39
"Lettre du voyant" muss...
"Lettre du voyant" muss es richtig heißen. Die verflixten...
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 19:30
Rimbaud
"Car JE est un autre." (Lettre de la clairvoyance)
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 14:55
Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


Foto1012

Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

Archiv

Juli 2011
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 

Suche

 

Status

Online seit 5773 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 7. Jun, 14:02