Angekommen

Ich bin angekommen, würde ich sagen wollen. Angekommen in meiner neuen Stadt, in meinem neuen Leben, welches so anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Wien hat ja nicht auf mich gewartet, sondern ich hab auf Wien gewartet. Bis ich es nicht länger aushielt in meiner alten Stadt, so lange habe ich auf Wien gewartet. Eines Nachts ist Wien dann zu mir gekommen, im Traum. Pack deine Sachen, hat es gesagt. Mach einfach! Mir war das unheimlich. Geradezu absurd war das Gefühl, morgens bei bei meinem Chef anzurufen und ihm zu sagen, dass ich seine Stadt, sein Theater und sein Ensemble verlassen werde. Für die Liebe, sagte ich. Das verstand er. Dieses Argument verstehen wahrscheinlich alle Menschen überall auf der Welt.
Dann ging eigentlich alles sehr schnell, weil immer alles sehr schnell geht, was ich wirklich will.
Als ich in Wien ankam, war die Liebe nicht mehr da. Sie war weitergezogen, zu einer anderen Frau, oder zu mehreren. Was weiß ich. Eigentlich spielt das auch keine Rolle mehr. Sie hat mich nach Wien gerufen, und bevor sie sich verzogen hatte, waren Wien und die Liebe eigentlich ein- und dasselbe gewesen. Ein Mischgefühl aus Abenteuer, Literatur, Architektur und Erotik. Es gibt bestimmte Plätze in Wien, die ich jetzt meide, weil an ihnen ein Kuss oder ein bestimmter Satz klebt, den die Liebe dort hat liegen lassen. Glücklicherweise sind es nur wenige, sonst hätte ich mir überlegen müssen die Stadt wieder zu verlassen, da es unmöglich gewesen wäre, Liebesleerstellen zu finden.

Jetzt ist es Winter. Die Stadt und ich, wir haben uns miteinander vertraut gemacht. Sie hat mir Menschen gegeben, die zu mir passen. Sie hat mir ein Weihnachtszuhause und eine Weihnachtsfamilie geschenkt. Im Gegenzug gebe ich ihr alles, was ich habe. Meine Begabungen, Talente, meine Zeit und meine Arbeit. Viel Neues entsteht. Ich bin meinem Traum von einem selbstbestimmten, kreativen Leben nicht nur ein Stück näher gekommen. Ich bin mitten drin.
Weberin - 8. Jan, 10:26

Wie schön. Nicht nur, dass ich endlich wieder etwas lesen kann hier, sondern auch noch etwas so Hoffnungsvolles, etwas, das davon spricht, dass jemand angekommen ist, nicht nur in einer Stadt oder bei einem Menschen, sondern in seinem Leben.

Terpsichore - 8. Jan, 12:21

Ich konnte eine zeitlang nicht schreiben. Umso schöner, dass hier noch gelesen wird. Ich danke Ihnen.
SehnsuchtistmeineFarbe - 8. Jan, 13:03

willkommen zurück!

wenn ich deine zeilen lese, bekomme ich den eindruck, dass das eingewöhnen in die neue wohnung, die neue stadt, die neue zeit, bei dir recht gut und schnell gegangen ist. beachtlich! es zeigt aber auch, dass es die absolut richtige entscheidung war, dorthin zu gehen. du fühlst dich heimisch. das ist ein geschenk, bei allem kummer, den du auch zu bewältigen hattest. es klingt und liest sich alles sehr stimmig. ich wünsche dir richtig viel spaß, ein schönes neues jahr sowieso und weiterhin soviel enthusiasmus und wohlfühlen.

lg an dich,
s.

Terpsichore - 10. Jan, 01:46

Ich danke dir!
schreiben wie atmen - 8. Jan, 22:53

Manchmal ist so eine Liebe einfach nur eine Gehhilfe, bis der Instinkt wieder zusammengeheilt ist. Wichtig ist, dass der Weg der richtige ist, zum Glück scheint das bei Ihnen ja der Fall gewesen zu sein.
Schön, Sie wieder in Kleinbloggersdorf lesen zu dürfen.

Terpsichore - 10. Jan, 01:47

"Gehhilfe" ist ein schönes Bild, und für den Impuls zu einer Veränderung sehr treffend. Man kann übrigens auch ein "h" weglassen, und es stimmte immer noch. ;-)
Über den Rest der Geschichte hab ich eine andere Theorie, über die ich schon hier einmal schrieb.
il re di nevrosi (Gast) - 9. Jan, 21:17

Traurig-schöner Text

– gerade der Ausdruck "Liebesleerstellen" gibt mir zu denken – aber der letzte Satz holt den Titel, der mir zwischendurch verloren schien, wieder ein. Ad multos annos selbstbestimmten, kreativen Lebens.

Terpsichore - 10. Jan, 01:43

Liebesleerstellen

Es ist ein Begriff, den man verschieden lesen kann: die Abwesenheit von Liebe könnte traurig sein, da aber diese Liebe untrennbar mit dem Schmerz verbunden war, sind die Plätze, die frei davon sind, zugleich ein Freiraum für neues Gefühl.
Aber Sie haben recht, es bleibt ein Tanz mit einer rhythmischen Stolperstelle, und vielleicht ist es das, was Ihnen traurig durchscheint. Was "wäre" ein selbstbestimmtes Leben, fragt ja Peter Bieri ganz bewusst im Konjunktiv.
albannikolaiherbst - 10. Jan, 12:44

In der Tat ("In dem Warten"),

ein sehr schöner Text.

Wo sind Sie untergekommen in Wien, an welchem Theater?
Und: es gibt dort Freunde, die kennenzulernen wahrscheinlich eine wechselseitige Freude wäre. Was meinen Sie?

Terpsichore - 11. Jan, 22:14

In jedem Fall

wäre das schön. Dann schreiben wir uns am besten per email. Alles andere auch da.


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Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


fertig1

Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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