Tagebuch

Löschkultur

Ich habe ein paar Einträge aus meinem Tagebuch wieder gelöscht, weil darunter Gedanken waren, die ich eigentlich nur für mich festhalten wollte. Vermutlich wusste ich gerade nicht, wohin damit.
Wenn ich nicht weiß, wo etwas hingehört, lass ich es meistens irgendwo liegen. Die vergangenen Ereignisse, die zwischen Tag- und Wachtraum mehr etwas von "es passiert mit mir" als "ich erlebe etwas" hatten, gehörten zweifelsohne dazu. Die lagen einfach herum in mir und ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Nun ist mein Webtagebuch aber keine Müllkippe, zudem besitzt es diese wunderbare Löschfunktion. Im richtigen Tagebuch, also in unserem Kopf, gibt es die ja leider nicht, es sei denn man fällt auf den Kopf und legt aus Versehen den Hauptschalter um. Das wäre allerdings zuviel des Guten.
Aber auf der externen Festplatte gibt es durchaus Dinge, die könnte man ruhig dem Vergessen anheimgeben, wenn man es sich nur erlaubte. Fotos und Texte zum Beispiel. Ich leide glücklicherweise nicht an dieser Sammelwut, die zwangsweise irgendwann zur Verstopfung führen muss. Ich habe Spaß daran, zu entrümpeln. Ich nehme auch nie etwas mit, wenn ich umziehe. Ich freue mich darauf, alles neu einrichten zu können. Das hat meine Mutter nie verstehen können, dass ich nicht an den Dingen hänge. All die Sachen in Kellern und auf Dachböden. Die schönen Möbel! Na und?

Es wird so viel Unsinniges, Unnützes aufgehoben, aufgeschrieben und, schlimmer noch, verbreitet. Zum Beispiel virtuell. Als wäre das Internet eine einzige Müllentsorgungsstation. Unendlich verschmutzbar. Das denkt man ja vom Universum auch, weshalb man schamlos beginnt, eine Müllkippe daraus zu machen. Dass das Ganze irgendwann wieder zurückkommen könnte, darüber macht sich offenbar niemand Gedanken.
Es gibt immer öfter Beiträge in meinem Lieblingsblog, da möchte ich dem Autor am liebsten zuflüstern Löschen Sie das mal wieder! Das würde ich natürlich nie tun, und ebenso würde der Autor das niemals tun, weil er natürlich in der Überzeugung schreibt, dass seine Worte eine Bedeutung für die Nachwelt erlangen werden, die er bereits zu Lebzeiten nicht hat. Dazu kommt, so vermute ich, ein Glaube, sich selbst auf diese Art konservieren zu können. Digitale Mumifikation gewissermaßen. Der Glaube an die eigene Bedeutung oder - je nachdem - die Angst vor der eigenen Bedeutungslosikgeit lässt eine ganze Generation sich virtuell verewigen. Früher ein Privileg von Pharaonen, setzen nun Greti und Pleti ihre Blogpyramiden in die Landschaft, wofür sie unermüdlich wie Ameisen Textbausteine heranschleppen. Das geht ja auch ganz leicht. Eine räumliche Begrenzung gibt es nicht mehr.

Ich hab natürlich auch meine Pyramide. Aber ich kann nicht bauen ohne zugleich immer wieder abzureißen. Es geht mir nicht um Vollständigkeit, die immer Bedeutungslosigkeit beinhalten muss, es geht mir um die wesentlichen Bausteine meines Lebens. Und die liegen meistens durcheinander. Deshalb bau ich heute hier und reiße da morgen wieder ab.

Vielleicht ist das nur eine Stratagie, der Angst vor dem Tod zu begegnen. Indem man sich Stück für Stück immer schon mal ein wenig selbst abschafft. Aber ich glaube es ist mehr. Es geht um eine Art ständiger Qualitätskontrolle in der mittlerweile grenzenlos gewordenen Entäußerung. Es geht darum, mich selbst zu begrenzen und so, durch das Spüren der eigenen Ränder mich wieder verorten zu können. Peter Bieri sagte in einer seiner Berliner Vorlesungen: "Man hüte sich davor, einen grammatikalisch wohl formulierten Satz bereits als einen Gedanken zu betrachten."
So ist weniger immer mehr, egal, wie herum man es dreht. In diesem Sinne -

Löschen Sie wohl!

Lebenslänglich

Gerade fand ich das hier.

Das erklärt, warum ich seit längerer Zeit das Gefühl habe, von einer tödlichen Krankheit befallen zu sein, obwohl ich doch nichts weiter tue als zu lieben. Ich werde das nie wieder los, denke ich mir. Egal, was passiert, egal, wie grandios wir scheitern. Das trage ich mein Leben lang mit mir herum wie ein Brandmal.
Wer aber spricht dieses Urteil: Lebenslänglich. Wer oder was entscheidet, ob etwas wieder vergeht, sich auflöst und heilt, ob wir ein Leben lang daran tragen oder zugrunde gehen. Die Liebe in wahr oder unwahr zu teilen ist mir zu einfach. Nur weil etwas vergänglich ist, ist es nicht weniger wahr. Darüber muss ich nachdenken.

Reliquien

Ob sie eine Vorstellung davon habe, was mir diese Dinge bedeuten, frage ich sie. Zugegeben, ordentlich sieht es nicht aus, wie all diese Zettelchen dort an der Kühlschranktür kleben. Aber jedes dieser Dinge ist so unmittelbar mit dir verknüpft, und mindestens einmal am Tag werde ich an einen Augenblick mit dir erinnert, wenn ich die Kühlschranktür öffne und mein Blick auf einen der Zettel fällt. Zum Beispiel auf den mit deiner Handschrift - eine Wegbeschreibung von deiner Wohnung zum Kunsthaus, die du mir gabst am zweiten Tag meines Besuches bei dir. Am ersten Tag kam ich ja nicht aus dem Haus. Tagelang trug ich diesen Zettel mit mir herum und glitt bei jeder Gelegenheit wie eine Süchtige mit meinen Augen an deiner Schrift entlang, als könnte ich so etwas über dich erfahren. Oder auf das Ticket des Fliegers, der mich das erste Mal zu dir brachte, 800 Kilometer weit. Oder die beiden Eintrittskarten vom Burgtheater für "Antonius und Cleopatra". Ich erinnere mich, wie ich mit rasendem Herzen im Foyer stand und auf dich wartete, im Gedränge der Besucher nach deinem Gesicht Ausschau haltend. Wie es dann auftauchte und ich den Atem anhielt, wie sich mein Gesicht in deinen Brillengläsern spiegelte als du mich heranzogst, um mich zu küssen. Und wie ich mich wegdrehte, Stolz behauptend, wo ich dir längst verfallen war. Auch an dein Lächeln darüber erinnere ich mich beim Blick auf diese Karten, die du mir gabst an jenem Abend, nicht ohne Stolz, die besten Plätze gewählt zu haben, und die ich sofort einsteckte mit dem festen Vorsatz, auch deine zu behalten. Als bräuchte es später einen Beweis, dass du wirklich da warst an jenem Abend, in diesem Theater auf dem Platz neben mir. Wie du plötzlich schliefst...

Nie, nicht ein einziges Mal hatte ich zuvor das Bedürfnis, Erinnerungen aufzubewahren. Es begann mit dir. Vom ersten Augenblick an war alles, was mit dir zusammenhing, kostbar.
Ob sie das nicht verstehen könne, frage ich also, und hebe ein wenig die Stimme. Ob sie die Dinge nicht da lassen könne, wo sie nun einmal hingehören. Da, wo ich sie sehen kann. Gut, sagt sie, dann häng sie aber wenigstens ordentlich auf. Ich muss lächeln über diesen mütterlich sanften Versuch, doch noch ein wenig Land zu gewinnen. Plötzlich komme ich mir ziemlich albern vor. Langsam pflücke ich jedes einzelne Erinnerungsstück von der Kühlschranktür ab und lege alles fein säuberlich zusammen in eine Blechdose, die gestern noch voller Lindt-Pralinen war.

Später, als du anrufst, will ich dir davon erzählen, aber etwas hält mich davon ab. Der Gedanke ist mir peinlich, du könntest davon erfahren, dass ich all diese Dinge wie kostbare Reliquien aufbewahre. Ich kann dir das nicht so einfach erzählen. Jetzt noch nicht. Aber eines Tages vielleicht, nach einem schönen Spaziergang - und jetzt beginne ich zu träumen - eines Tages also, an einem Herbsttag wie diesem mit rotgoldenem Laub auf den Wegen werden wir heimkommen aus dem Park, wo wir die Tauben fütterten. Wir werden zusammen sitzen bei einer Tasse Tee, und dann, frühestens dann werde ich mit alten, zitternden Händen die Schachtel hervorholen und dir meine Schätze zeigen. Zu jedem werde ich dir eine Geschichte erzählen, und alle Geschichten zusammen werden sein wie eine Reise durch die Erinnerung unserer ersten Tage.

Terpsichore schreibt wieder.

Ich liege im Bett, beide Füße in Gipsverbänden. Die Schmerzmittel, die ich einnehme, vernebeln mir die Sinne, und was noch zu mir durchdringt, erheitert mich nicht unbedingt. Staubsaugergeräusche, verursacht von meiner zu Hilfe geeilten Mutter, die es sich offenbar zur Herausforderung macht, meine Wohnung keimfrei zu bekommen. Als würde ich in einer sterilen Umgebung besser genesen.

Ich kann ihr nicht sagen, dass mich das stört, es würde sie kränken. Ich bin wieder abhängig von ihr, wie damals, als ich ein kleines Kind war. Stillschweigend fügen wir uns beide in diese Vereinbarung, die so etwas wie ein Nachholen, ein Nachbessern ihrerseits sein soll, das fühle ich. Und so erlaube ich ihr, in meiner Welt wie ein Fremdkörper herumzufuhrwerken und die Dinge so zu verstellen, wie sie es zweckmäßig findet. Im Gegenzug erfüllt sie mir jeden Wunsch, den ich äußere. Legt Platten auf und dreht sie um, nicht ohne vorher Staub darauf zu wischen, kocht mir meinen Lieblingskaffee, holt mir Walnussbrötchen vom Bäcker und beschmiert sie mit Trüffelleberpastete, serviert mir alles mundgerecht, stützt mich, wenn ich an Krücken ins Bad muss, was meist mehr als 10 Minuten dauert, öffnet die Türe für Besucher und den Arzt, der mir den Verband wechselt, füttert und streichelt den Kater und bringt mir den Laptop ans Bett. So, sagt sie, nun ist wieder alles IN ORDNUNG.

Schreiben. Eine Erlösung. Das, wovor ich eine Zeitlang geflüchtet bin, wird nun wieder Zufluchtsort. Ich freu mich an den Worten, die auf die rosa Seite klettern, das Klackergeräusch der Tasten lässt mich so lebendig fühlen. Worte. Meine Worte. Wo wart ihr nur solange...

Die 40 er sind die neuen 20er...

...schrieb mir eben eine Freundin. Ich lebe gerade meine letzten Minuten in den 30ern und versuche, das Spektakuläre daran zu bemerken. Ich hatte ein wenig Sorge, dass ich vielleicht in eine mittelschwere Depression fallen könnte und habe den letzten Abend vorsorglich mit einer Freundin verbracht, die Therapheutin ist. Sozusagen zur Sicherheit. Wir hatten einen tollen Abend, und die mir wichtigsten Menschen riefen vorher an, um zu hören wie es mir geht. Oder um Beistand zu leisten. Aber nichts ist passiert. Zu meinem eigenen Erstaunen. Ich habs ja gerne theatralisch. Aber irgendwie bleibt es unspektakulär. Sich darüber zu freuen, was alles ist, und nicht zu schauen, was alles nicht ist, scheint mir die einzige Turnübung zu sein, die ich heute veranstalten kann. Vielmehr wird nicht passieren. Warum auch. Es ist alles gut so, wie es ist. Und gefeiert wird morgen.

Hast du Lust auf einen Kaffee?

würde ich jetzt gerne zu June sagen, nachdem ich ihre letzte Geschichte gelesen habe. Vorher würde ich natürlich noch Cellini und Anna Häusler anrufen, weil die irgendwie dazugehören für mich. Kurze Zeit später säßen wir alle vier in einem Straßencafè und redeten über das, was wir hier nicht schreiben.
Die Sonne scheint heute wie verrückt. Ich bin sicher, wir hätten einen wunderbaren Tag.

Von geschlossenen Türen und anderen Unmöglichkeiten

Es ist spannend, Türen zu öffnen. Es ist aufregend, durch sie hindurchzugehen. Es kann Spaß machen, sie zuzuschlagen, und es ist schmerzhaft, sie hinter sich zu schließen und wegzugehen. Heute habe ich eine Tür geschlossen. Nicht laut. Leise. Sehr leise sogar. Vielleicht sogar ein wenig feige. Denn ich habe es schriftlich getan. Das gab mir Zeit, Worte zu finden, die ich so nicht zusammenhängend herausbekommen hätte. Das Schlimme ist, dass ich tief in meinem Herzen nicht sicher bin, ob ich das Richtige getan habe. Eine Unsicherheit bleibt, die aber nun nicht mehr ausgeräumt werden kann, denn die Tür ist zu. Was ich mache, mache ich richtig. Gründlich würde ich nicht sagen, das ist zu deutsch. Aber ich habe keine Zweifel gelassen.

Vielleicht hab ich aber etwas übersehen. Eine kleine Lücke in meiner Urteilsverkündung, die es dem Verurteilten ermöglicht, Berufung einzulegen. Gerade bemerke ich, wie sich beim Schreiben ein kleines bischen Hoffnung breitmacht. Dürrenmatt schreibt irgendwo über den Unterschied zwischen Hoffnung und Erwartung. Die Hoffnung könne nicht enttäuscht werden, weil sie sozusagen nicht endet, Erwartungen hingegen schon, weil sie auf konkrete Erfüllung hin drängten. Ich sehe das anders. Ich habe lange genug auf Veränderung gehofft. Hoffnung, die ein subjektiv gefühltes Zeitmaß von "lange genug" überschreitet, darf irgendwann als Dummheit bezeichnet werden. Die Metarmorphose vom Hoffnungsträger zum Deppen vollzieht sich dann unbemerkt für einen selbst. Damit es gar nicht erst soweit kommt, habe ich vorsorglich die Tür geschlossen. Natürlich in der Hoffnung, dass sie irgendwo einen winzig kleinen Spalt breit offen geblieben ist.

Vom Singen

"Wissen Sie, es ist so schrecklich, daß das alles so vorbeigeht. Sie haben ja keinen Begriff, wieviel Leben im Singen drin ist, wieviel Herz, wieviel Gefühl, wieviel Angst, wieviel Aufregung. Ein ganzes Leben liegt in so einer Stimme drin, und ich soll das jetzt so quasi unbeteiligt abhören. Mir zerreißt's das Herz. Ich schalte aus, tu's weg. Ich kann es nicht." (Malaniuk, Ira in Interview an Asche, G. in "Oper 1981" Jahrbuch Opernwelt, S. 30)

Der Wahnsinn hat viele Gesichter. In eines schaute ich heute morgen.
Sie wohnt schräg über mir in einer kleinen Wohnung mit ihren beiden Katzen.
Manchmal schleicht sie nachts im Innenhof wie ein Gespenst umher. Das lange blonde Haar fällt ihr wirr herab, lächerlich geschmückt mit großen Stoffblumen. Das Gesicht grell geschminkt, gekleidet in ein Gewand, welches den Kampf gegen die Motten längst verloren hat. In einer Hand einen schwarzen Fächer, die Arme schaudervoll emporgehoben, so wandelt sie. Dann ist sie Lucia. Oder Ophelia.
Heute morgen aber ist alles anders. Wie ein waidwundes Tier irrt sie, schmerzensreich rufend, im Haus umher und rauft sich das strähnige Haar.
Barfuss läuft sie hinaus über die Scherben der Blumentöpfe, welche sie selber gestern zerschlagen hat. Kein Schmerz scheint größer als ihr innerer.
Ich kann das nicht mit ansehen, und obwohl ich Angst habe vor diesem Wahnsinn, gehe ich hinaus und nehme sie in den Arm.
Eine Stunde später. Um uns herum Polizei, Rettungssanitäter und ein Notarzt. Alles an ihr ist Jammer und Schmerz. Ein Gestank von Verwahrlosung und Vereinsamung geht von ihr aus. Ich lege meine Hand auf ihren Arm, beruhigend. Noch einmal dreht sie mir ihr verweintes Gesicht zu und sagt: "Ich war doch auch einmal Sängerin! Mein Vater war Sologeiger am Theater in W., und ich habe auch getanzt. Alles!.... Ich höre Sie doch immer, wenn Sie singen...was glauben Sie, wie das ist für mich..." Dann bricht sie wieder in Weinen aus. "Ich weiß." - sage ich nur. Streiche ihr das wirre Haar aus dem verschmierten Gesicht. Sie hatte mir während der letzten Stunde immer wieder diese und andere Geschichten erzählt. Ich schaue in ihre Augen, die seltsam jung geblieben sind, und kann auf einmal nicht mehr an gegen meine eigenen Tränen.
Der Notarzt beugt sich zu mir herüber, während er eine zweite Spritze aus seinem Koffer wühlt. "Sie sind auch Sängerin?" Das "auch" betont er derart, dass die Frage einer verfrühten Diagnose gleichkommt. Oder einem Urteil.
Ich ahne, was er jetzt denkt. Und auch ich hoffe, nein ich b e t e in diesem Augenblick, dass mir ein Leid wie dieses erspart bleibt. Und falls nicht, dass einer meiner Freunde mir gnädig dorthin hilft, wo kein Wahnsinn mich mehr erreichen kann.

Wieder später. Ich stehe mit zwei Männern vom Tierheim in ihrer Wohnung. Wir suchen die verängstigten Katzen einzufangen. Ein Gestank, der unerträglich ist, lässt mich die Luft anhalten. An den Wänden viele Bilder. Ich gehe näher, eines zu betrachten. Es ist eines der Fotos in Kostüm und Maske, welche man kurz vor Premieren in den Gängen eines Theaters von den Hauptdarstellern macht. Stolz lächelt sie in die Kamera. Ihre rechte Hand liegt an ihrer Brust. Darin hält sie einen kleinen Fächer. Unten am Bildrand steht in kleiner Schrift: "Maria Stuart - 22.3.1984"


Sie aber bedeckte
mit ihren Händen das
alte Gesicht,
voll Glut die strömenden Augen.

So sank sie ins Moos.

Randnotiz über das Öffnen einer Tür

Es ist eine tiefe Erfahrung, wenn man versteht, dass all die Dinge, die wir als sogenannte Normen in unserem Kopf tragen, von einem Moment auf den anderen wegfallen können und den Weg frei machen für das Gefühl der absoluten Hingabe, für geistige Klarsicht und eine Extase wie sie nur denen zuteil wird, die loslassen können.

Wenn wir es schaffen, uns in dieser Art und Weise zu entgrenzen,schenkt uns das Leben im Austausch für unsere Ängste etwas, dass unsere Imagination bei weitem übersteigt.

Entscheidung

Sie stand am Rande des Abgrundes, bereit zu springen. Die Zehen ragten leicht über den Krater, die Arme ausgebreitet wie Schwingen federte sie leicht in den Knien. In diesem Moment kam der Hund ins Zimmer. Er humpelte merkwürdig. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber sein über das Parkett schleifendes Bein lenkte sie ab. Er schnüffelte sich an einer unsichtbare Linie über den Boden entlang bis zum Bett und fiel entspannt in sich zusammen.
Sie atmete tief durch und breitete erneut die Arme aus:
Die Mitte! Entscheidungen werden immer aus der Mitte heraus getroffen.

Der Hund humpelte zu seiner Schüssel vor dem Herd und schaute zu ihr hinüber. Zwei schwarzglänzende Knöpfe über einer schwarzen Ledernase in braunes Fell eingenäht. Vielleicht war er gar nicht echt. So etwas kam vor. Dass sich ein Plüschtier sinnlos am Lebenselixier besoff und nicht mehr steif bleiben konnte...
In ihrer Phantasie war alles möglich. Sie war keine Verfechterin der Logik, überhaupt nicht. Aber sie musste eine Entscheidung treffen, und sie hatte zu viele Alternativen. Intuitiv war da nichts zu machen. Es galt abzuwägen. Punkt für Punkt zusammenzutragen und Vor- und Nachteile gegeneinander aufzurechnen.
Aber dieser Hund. Wieso humpelte er eigentlich? Und was hatte ihre Entscheidung mit seiner Entscheidung zu tun, nur noch drei Beine zu benutzen statt vier? Wieso hatte er überhaupt vier davon, wenn er nur drei brauchte? Verschwendung. Die Natur war verschwenderisch, das Leben sowieso. Zu viele Möglichkeiten. Viel zu viele.
Sie atmete tief durch. Es gäbe da noch eine Möglichkeit. Zusätzlich zu all den anderen. Vielleicht die einzig mögliche überhaupt. Schwarz und leer gähnte der Abgrund vor ihr. Eigentlich war es ganz einfach. Statt vieler Möglichkeiten nahm man die eine. Die Mitte. Aus der Mitte heraus konnte man alles schaffen.
Sie atmete tief ein, breitete die Arme aus und sprang.


BEITRÄGE

Die Andere
Wir sind viele und...
Terpsichore - 29. Nov, 10:28
...
So, what would Wittgenstein...
Terpsichore - 17. Jan, 09:39
"Lettre du voyant" muss...
"Lettre du voyant" muss es richtig heißen. Die verflixten...
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Rimbaud
"Car JE est un autre." (Lettre de la clairvoyance)
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 14:55
Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


Foto1011

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Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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Zuletzt aktualisiert: 7. Jun, 14:02