VERSuchtVERS

Gestern

Eiseskälte im Auto.
Zemlinskys Trio d-moll op. 3
im Radio.
In meinem Mund
zerschmilzt ein Nougat-Ei.
Ein Sprecher sagt:
"Es spielte das Wiener Klaviertrio."

Es flutet meinen Leib bis an die Ränder.
Mit mir hält auch die Luft den Atem an.
Ich lausche in die Sinnlichkeit, in allem bist schon - unaufhaltsam -
Du.

Ordnungsliebe

Eingeklemmt in
einer Gletscherspalte
befragte ich den Schnee
nach seiner Struktur.
Er aber verwies mich
eiskalt an die fraktale
Geometrie.
Da hob ich den Kopf, öffnete
den Mund und lies seine
Kristalle auf meiner Zunge
zergehen.

Trauerfeier

Das Blondlockenschaf
führt ein Mikrofon ans Maul als wolle
es sich in den Hals stecken.
Ich hoffe auf Selbstmord. Die Hoffnung
stirbt zuerst.
Freudengejaul aus Schafsmäulern,
angewachsen an Schafshälsen.
Tausende. Unzählige.
Die Musik ist zur Hure des Abends bestellt.
Fünf Kastraten vergewaltigen
ein Hohelied, ihre Gurgellaute brechen
sich am Mauerkonstrukt, das muss selbst
einen Stein erweichen, das schreit zum Himmel.
Der hat dann auch geweint.

restauration

du meine angst
die ich bei mir trage
wie eine in fetzen
hängende bettjacke
du geprügeltes kind
meiner kindheit und
daraus erwachsener
zeit - komm!
ich näh dir den
knopf wieder an

Vermutung

Was weiß denn ich
was der Käfer weiß
über sich selbst
wenn er langsam durch
das Kartoffelfeld kriecht.

Vermutlich weiß er
mehr über mich
als über sich selbst
wenn ich ihm ein
Bein rausreiße.

So wie auch ich
mehr über dich weiß
als über mich selbst
wenn du mich
in deine Hände nimmst.

Ich werde durch mich
über mich überhaupt
nichts erfahren.
Morgen werde ich den
einbeinigen Käfer befragen.

Verführung

Ein Geliebter ist der Herbst.

Er führt mich zum Tanz auf das Laub,
und wenn ich den faulenden Äpfeln im Gras glauben kann,
ist der Tod süß.

Es drängt mich aufs würzige Blätterbett.
Die Erde zieht an mir wie kein Liebhaber, und der Himmel
drückt mir die Augen zu.

Absichtslos fällt das Geschenk seines Samens
auf mein Gesicht.
Fiele ich doch auch so leicht vom Zweig.

Komm unter mein Herz und ritz mir
was Bleibendes ein.
Der Stamm dort trägt doch auch zwei Namen!

Sicher

Auf der sicheren Seite
war ich immer.
Auf die sichere Seite
wollte ich immer.
Sicher vor Krankheit,
vor Unfall und Keimen,
vor Armut und Tod...
Auch vor der Liebe.

Wenn ich jetzt mich hin-
und aufgeben will,
weil ich muss:
Das Samtige da gibt
leichter nach, es wehrt
dem Drängen nicht.

All meine Wünsche
aber, mein Fühlen,
auch Ängste und Schmerzen,
davon zu sagen ist
ungleich schwerer
als öffnen den Leib.

Ein Anderes haben wir dann.
Nichts Sicheres – niemals!
Doch etwas, das uns
verbunden sein lässt
über alle Gefahren hinaus.
Soviel ist sicher.

Rätsel

Er drehte sich zu mir.
Ich sah seinen Leib
von Striemen durchzogen
mit Nadeln zerstochen.
Sein Augenweh schoss mir
ins Blut.

Ich gab ihm zu trinken.
In gierigen Schlucken
soff er das Wasser.
Sein schmutziger Bart
hing darinnen.
Wer bist du?

Ich streichelte ihm das
rostbraune Fell, es hing
so in Fetzen, im Kot lag sein
Schweif, der einst prächtig
gewesen sein musste. -
Was tut ihr?

So sei es geboten
zu handeln an Feinden!
An allem, was schlecht und
verderbt sei. - Ich aber fragte:
Seht ihr denn nicht,
dass es weint?

Und selber begann ich
verzweifelt zu weinen, ob
niemand denn käme zu helfen?
Und flehte und bat keinen Gott
um Erwachen!
Wo war ich?

Sisyphos

Und der
dümmste der
Helden war
Sisyphos, der
wieder und
wieder und
wieder und
wieder und
wieder und
wieder und
wieder und
aber ich will Sie da nicht mit reinziehn.

anna


manchmal da
strömt sie so
über von menschen-
liebe liebt alles
und jeden kann
lächeln dem mann
der ihr fische
verkauft dass er weint

dann wieder will sie
sein gegen
jeden und alles
aufbegehren
will sie und weint
weil sie
nicht weiß wie
ist das - zu töten

schreien will sie
verletzen mit worten
wie stahl die grenzen
gezüchteter sprache
aus anstand schlagen
die köpfe vom
hässlichen leib
und lachen

aber an einem
anderen tag da
legt sie ihr haupt das
gesicht zu boden
der leib gebunden
die hände von sicherer
hand zu finden -
seltsam - erlösung

alles ist himmel!



(für anna, deren verlinkung noch nicht so richtig klappen will, deshalb hier:
http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/montag-3-august-2009/


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Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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