Zuhause

Der Herbst war ihr die liebste Jahreszeit. Die Straßenmenschen wurden langsamer in ihren Bewegungen. Wenn sie in ihre Gesichter sah, schauten sie zurück. Manche mit suchendem, andere mit wissendem Blick, nie aber hastig. Die Kälte schien die Menschen einzufrieren in ihrem hektischen Gang. Warme Wollsachen, Schals und Mützen durften aus den muffigen Schränken in die frischkalte Luft und hingen nun dankbar wärmend an älteren Menschen.
Die Jugend stand noch mit offenen Krägen in kleinen Grüppchen unter den Abendlaternen und wollte das Sommerlachen festhalten.

Sie lief durch die Straßen ihres herbstbunten Städtchens und lud den Frost in ihr Gesicht ein. Sollte er sich festbeißen bis sie nach Hause käme, wo das das Feuer eine angenehme Wärme verbreitete und ihn freundlich aber bestimmt verdrängen würde.
Nach Hause. Sie sprach in Gedanken diese Worte und versuchte ihre Bedeutung zu erfassen. Wann ist man zu Hause. An der Giebelwand ihres Hauses stand in großen Buchstaben: "Zu Hause ist wo man hingeht, wenn einem die Orte ausgegangen sind." Barbara Stanwick. Vermutlich war sie viel gereist, diese Barbara.
Sie selbst hatte noch nicht allzuviel von der Welt gesehen. Und doch waren ihr beizeiten die Orte ausgegangen. Sie zog von Stadt zu Stadt, schlug überall sofort Wurzeln und wollte sogleich wieder weg. Irgendwann hatte sie bemerkt, dass es keinen Sinn machte, hin und her zu ziehen. Man musste sich doch selbst immer mitnehmen. Ihr schwerstes Gepäckstück, welches sie immer und überall mit sich herumschleppte, war sie selbst. Nie hatte sie es geschafft, sich ihrer zu entledigen. So sehr sie sich auch bemühte, und so weit sie auch reiste. Sie hing fest an sich dran. Fast wäre sie im letzten Jahr wieder umgezogen, als ihr der Gedanke kam, es müsse doch möglich sein, sich bei sich zu behalten und einen angemessen Platz für sich zu finden, in sich selbst. Vielleicht würde sie auf diese Weise bleiben können. Das Städtchen in welchem sie wohnte gefiel ihr nämlich ausnehmend gut, und nachdem keine Stadt mehr übrig war, in welcher sie nicht schon gewohnt hätte, bekam sie allmählich das Gefühl, dass ihr die Orte ausgingen.
Vielleicht ist es ja das, was man Zuhause nennt, dachte sie. Der Ort, an dem man mit sich selbst sein konnte.


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Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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Zuletzt aktualisiert: 7. Jun, 14:02