Die Mutfrage

Stephané Hessel ist tot.

„93 Jahre. Das ist schon wie die allerletzte Etappe. Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement erwachsen ist...“
Das sind die einleitenden Worte seines gerade einmal 29 Seiten umfassenden Lehrstückes „Empört euch!“ Nicht viele Worte. Aber sie haben viel und viele bewegt.

Als ich mir das kleine Heftchen damals in der bereits 6. Auflage in Weimar in der Eckermann-Buchhandlung kaufte, setzte ich mich damit ins Café am Frauenplan und las es in einem Zug durch. Im Rücken hatte ich die Sonne und das nicht einmal 10 km entfernte KZ Buchenwald, welches Hessel überlebt hatte. Ich war aufgewühlt.
Gelernt hatte ich: politisch denken und handeln. Mit dem Denken hatte ich nie Probleme, beim Handeln jedoch ziehe ich es vor, wenn es darauf ankommt mich auf meine Künstlerseele zu berufen: ich bin ein sensibler und ängstlicher Mensch. Ich vermeide Konflikte und Konfrontationen; ich brauche die Harmonie. Wenn ich aus dem Hinterhalt rufen kann, dann tue ich es gern. Aber man stelle mich bitte nie nach vorn oder verlange von mir dass ich einen Stein werfe, und sei er auch nur verbal. Wenn mich meine politisch aktiven Freunde im Berlin der frühen 90er zu den allseits beliebten Mai-Demos schleiften und ich dort eingekesselt von Polizisten zwischen Kurden auf der einen und Nazis auf der anderen Seite meine ersten Panikattacken erlitt, dann hasste ich sie wochenlang dafür. Mein Harmoniegefühl war gestört, und ich musste jedes Mal literweise Bachblüten schlucken und im Lotossitz Mantras aufsagen bis ich wieder einigermaßen hergestellt war. Kämpfen ist einfach nicht meins, und wenn ich mich manchmal als „Salonkommunistin“ bezeichne, dann meine ich das auch so. Denn wenn man es als 18–jährige ohne Blessuren aus einem politischen Gewaltsystem in die Freiheit geschafft hat, wenn man endlich Zugang zum weltweiten Heiratsmarkt sowie zu allen Büchern hat die man schon immer lesen wollte, wenn man noch dazu den ganzen Tag trällern darf und damit sogar Geld verdient, dann sollte man einfach nur dankbar sein und ansonsten die Klappe halten wenn es anderswo auf der Welt weniger schön zugeht.

Dann also Hessel. Ich las mehr über ihn und sah mir Interviews an; so richtig konnte ich das Mysterium eigentlich nie begreifen, welches von ihm ausging. Ich erinnere mich aber an dieses elementare Gefühl, welches er in mir auslöste: Ich wollte plötzlich noch jemand anderes sein als ich schon war: nicht nur jemand, der im Wolkenkuckucksheim einer Kulturhauptstadt hockt und sich den schönen Künsten widmet – nein! Jemand, der etwas bewirkt in der Gesellschaft, der sie zum besseren hin mitverändert. Ach ja, das klingt jetzt pathetisch, aber so wars.

Es gibt heute mehr denn je Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen, ohne sich irgendeiner Gefahr auszusetzen. Man muss nicht einmal mehr mutig sein. Organisationen wie "Avaaz" machen es einem so leicht wie nie, seine Stimme zu erheben. Statt dämliche Katzenbilder zu teilen kann man Facebook benutzen um auf Missstände und Unrecht in aller Welt hinzuweisen und auf politische Systeme einzuwirken. Ich glaube nicht mehr daran, dass ein Einzelner nichts bewegen kann, weil wir mit den derzeitigen medialen Mitteln erstmals in der Geschichte der Menschheit die Möglichkeiten haben, innerhalb weniger Stunden aus einer Stimme eine Million Stimmen zu machen. Man muss nicht einmal global denken, man muss nur um die Ecke schauen:

Wenn sich alle, aber auch wirklich alle meine Bekannten und Freunde hier in Wien auch heute wieder tagesaktuell im Gespräch darüber aufregen, wie Österreich mit seinen Flüchtlingen und generell mit Menschen aus sogenannten Drittstaaten umgeht, sich jedoch seit langem nichts, aber auch gar nichts an dieser Situation ändert, dann möchte ich sie fragen: Was ist los mit euch? Woran liegts?

Ich bin irgendwie gehemmt, in einem Land, in welchem ich selbst Gast bin, meine Stimme zu erheben und die hiesige Politik offen zu kritisieren. Vor zwei Wochen war ich bei einer Demonstration gegen die derzeitigen unmenschlichen Abschiebegesetzte dieses Landes. Weil es nämlich – um mit Slavoj Zizek zu sprechen – nichts anderem als dem Faktor x, also einem glücklichen Zufall zu verdanken ist dass ich in Deutschland geboren wurde und deshalb anders behandelt werde. Und weil bereits hier eine Solidarität anfängt, zu der Hessel in seiner Schrift aufruft:

„Die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 niedergelegten Rechte sind universell. Wann immer sie jemandem vorenthalten werden, und ihr merkt es: Nehmt Anteil! Helft ihm, in den Schutz dieser Rechte zu gelangen!“

Aber was ist das schon, auf eine Demo zu gehen. Ich wäre gerne noch viel mutiger. Tja, Mut. Da sind wir bei der Kernfrage. Wird man schon mutig geboren? Oder wird man mutig wie Hessel, indem man den Naziterror überlebt? Was macht einen mutigen Menschen überhaupt aus? Wir haben heute vor so vielen Dingen Angst. Seltsamerweise vor den falschen. Wir registrieren kaum mehr Fukushima, aber wir haben Angst vor Viren, bevor diese überhaupt ausgebrochen sind. Diese Welt ist so verrückt, dass ich mich manchmal frage, wie ich so glücklich in ihr leben kann.

Dass mich Hessels Tod betroffen macht ist nicht die Tatsache an sich. Es ist das Wissen, dass mit ihm jemand gegangen ist der anderen Mut gemacht hat selbst mutig zu sein, und dass an seinem Platz eine Lücke sein wird. Aber er hat uns etwas aufgetragen.
Tun wir es. Empören wir uns!

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Die Leichtigkeit ist eine goldene Nuss

Die Leichtigkeit ist nichts, was einem leicht fällt. Sie ist vielleicht das am Schwersten zu Erreichende überhaupt und nicht zu verwechseln mit der Gelassenheit, welche nichts anderes ist als eine ins Goldmäntelchen der Erhabenheit gekleidete Resignation, die wiederum ihre Entstehungs- bedingungen an nichts anderes knüpft als an die Resignation selbst.

Die Leichtigkeit hat als Notwendigkeit die Überwindung einer wie auch immer gearteten Schwere zur Vorbedingung. Die Schwere ist die Schwester der Leichtigkeit, oder umgekehrt. Mit Leichtigkeit können wir uns etwas schwer machen, und es fällt uns schwer, etwas leicht zu nehmen.

Deshalb fällt einem die Leichtigkeit weder leicht noch kommt sie leichtfüßig oder gar leichtfertig daher, wie ihr Name vermuten lassen könnte. Sie ist eine goldene Nuss, deren Glanz, d. h. deren Schönheit ihres Namens uns leicht übersehen lässt, dass hier zuerst etwas Hartes überwundenwerden muss, um an die eigentliche Frucht heranzukommen. Fast immer ist Leichtigkeit das Resultat eines Ringens um sich selbst. Das macht es ihr natürlich schwer, spontan irgendwo aufzutreten und leicht zu sein, und eben dieses ihr innewohnende Paradox macht sie zu etwas Kostbarem. Deshalb sind wir beglückt, wenn wir sie in uns oder bei Anderen vorfinden: wir wissen, dass die Leichtigkeit kein Leichtes ist.

...und stiehlt die Garben weg vom Feld

Auf dem Weg zur Porta Posterola die staubige Via Garibaldi entlang kam ich am Milchladen vorbei, dessen Besitzer eben dabei war sich vor seinem Laden eine Zigarette anzuzünden. Was für ein schönes Bild, dachte ich. Das hätte ich gerne festgehalten.
Aber nicht erst seit ich das Buch von Susan Sontag "Über Fotografie" gelesen habe scheue ich mich, Menschen zu fotografieren. Durch das Ablichten, oder Abschießen - nicht umsonst nennt man das Fotografieren der Paparazzi so - stiehlt man dem Menschen etwas weg, so meine Empfindung. Man fängt etwas von ihm ein, dessen er sich nicht einmal bewusst sein muss. Selbst in exotischen Ländern, oder gerade dort, habe ich es immer vermieden, Menschen abzulichten. Auf meinen Bildern sind so unspektakuläre Motive wie die Pyramiden, ein Kugelfisch oder ein Riesensteinpilz zu sehen. Und das Meer. In allen Farben, zu allen Jahreszeiten. Selten aber, fast nie habe ich Menschen fotografiert. Auch von mir selbst gibt es kaum Fotos. Meist stammen sie von der Bühne, von öffentlichen Auftritten. Mich selbst abzulichten hat etwas eigentümlich narzisstisches. Man rückt sich für einen Augenblick in ein bestimmtes Licht, fängt sich ein, und stiehlt sich doch etwas weg. Vielleicht erklärt das, warum ich mir beim Betrachten dieses Bildes ein wenig verloren vorkomme. Wenn man sein Bild in die Offenheit der Welt - und das hier IST ein öffentlicher Raum - hineinwirft, wirft man nicht immer auch ein Stück von sich selbst mit weg, obwohl man glaubt, sich zu vervielfältigen? So denke ich - und bin vielleicht gerade deshalb nicht.

Zigarette

Dein Jakobsweg

Der Tag versprach so schön zu werden: Mit dem amerinischen Freund saß ich in seiner Küche, wir hatten eine Honigmelone zu orangefarbenen Schiffchen aufgeschnitten und aßen dazu vom Parmaschinken. Ich erzählte ihm von der Oper, versuchte ihm das aus meiner Sicht Besondere daran schmackhaft zu machen und wählte als Hörbeispiel Claudia Muzio, wie sie "Cecilia" singt, das saß. Ergriffen lauschte der Freund, und ich plauderte weiter, über Stimmführung in den verschiedenen Epochen, vom Belcanto und was ihn ausmache...
Die Sonne fiel durch die hohen Fenster und durch die offene Tür vom Hof herein, so dass es uns vorkam als säßen wir unter freiem Himmel. Die hohen Wände und der Marmorboden hallten wider vom Klang dieser göttlichen Stimme, und berauscht gingen wir in den Tag: der Freund, welcher danach in die Stadt fuhr und ich, die sich zum Singen bereit machte, als das Handy klingelte.

Ich sah den Namen des Anrufers im Display und wusste sofort was dieser Anruf bedeutete: Keiner unserer gemeinsamen Freunde würde mich ohne Grund hier in Italien anrufen, wenn nicht irgendetwas an deiner Situation sich gravierend verschlechtert hätte. Allerdings, was hätte sich noch verschlechtern können? Vor zwei Tagen kam der Zustandsbericht einer Freundin als Rundmail. Eine Verlegung ins Hospiz sei abgebrochen worden, man hätte dich an einen Tropf gehängt. Ich fühlte mich ohnmächtig, beschloss aber, dass ich jetzt im Urlaub sei und sowieso nichts tun könne. Ich verhielt mich still und schrieb nichts dazu. Aber ich wünschte mir zwei Dinge, die sich ausschlossen: "Warte noch, bis ich zurück bin." und "Ja, geh. Lass los!"

Wir, deine Freunde, die dich gemeinsam pflegten, schreiben uns immer sofort, wenn es aktuelle Veränderungen gibt. Nun also, ich kannte die Aufs und Abs, reagierte mit der Zeit gelassener auf solche Katastrophenmeldungen. Wie viel hast du schon ausgehalten, und wie oft hab ich an deinem Bett gesessen, deine Hand gehalten und geglaubt, du wärest schon auf deinem letzten Weg, um dich dann am nächsten Tag wieder strahlend und aufrecht im Bett sitzend vorzufinden. Nein, du würdest nicht so schnell gehen. Kurz vor meiner Abreise hatten wir noch den Jakobsweg geplant, von dem du so sicher warst ihn noch einmal gehen zu können. Wir alle wussten nie, wie ernst du das meinst, und ob du wirklich noch daran glaubst. Ausgesponnen haben wir diese Reise jedenfalls bis ins kleinste Detail: Flick und Flack, die Packpferde, welche du brauchen würdest, die Farbe der Satteltaschen, und wie die Stulpen der Pferde bestickt sein müssen, damit man kleine Dinge dort hineintun könne. Geld würdest du nicht brauchen, denn diese kleinen Dinge würdest du gegen Essen eintauschen...
Ich mochte diese Verschiebung, dieses Bild, welches du für das Unaussprechliche gewählt hattest. Mit dir in deine Welten einzutauchen, deinen Gedanken zu folgen, die der Tumor in deinem Hirn zu den absurdesten Konstrukten verwirbelte, das lies mich mein gesamtes Denken über Logik über Bord werfen. Es war wunderbar, mit dir zu spinnen! Es gab keinen, nicht einen einzigen Tag, an welchem du mich nicht zum Lachen, zum Wundern oder zum Staunen gebracht hättest mit deiner unendlichen Phantasie und deinem Glauben an das Schöne im Leben, an das Gute im Menschen. Und wer, wenn nicht du, hätte zweifeln dürfen...
Du warst mein Leuchtstern am Seelenhimmel während dieser ganzen letzten Zeit, und nie, niemals musste irgendwer dich trösten. Das ist das Wunderbare an dieser ganzen Geschichte: dass du uns, deinen Freunden, so viel Liebe, Kraft und Lachen geschenkt hast, während dein Körper an Schläuche angeschlossen und mit Medikamenten zugeschüttet langsam im Bett zerfiel. Dass wir, die wir teilweise einander nicht einmal kannten, durch dich zu Freunden geworden sind. Das wird bleiben.

Nun also der Anruf.
Es ist seltsam. So oft hab ich versucht, mir vorzustellen wie es sein wird wenn du stirbst. Wie sich das anfühlt: Der Tod. Und dann kommt er in zwei Sätzen durch ein Handy...
"Weine doch nicht!" hast du einmal zu mir gesagt, kannst du dich noch erinnern? Als mir einmal die Tränen kamen während wir das Vorspiel vom "Lohengrin" im Radio hörten und ich deine Hand hielt, die immer dünner und kraftloser wurde. "Wir haben doch soviel Schönes! Wir haben uns!"
Ich muss dir für so vieles Danke sagen.

Übrigens, du hast doch vor ein paar Wochen den Pfeil haben wollen, den ich beim Bogenschießen in der Mitte gespalten hatte, und ich ließ ihn dir, weil es dich so sehr freute, ihn anzuschauen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich dir sagte ich wolle ihn aber unbedingt wiederhaben, denn das sei etwas ganz Großes: den Pfeil des vorherigen Schützen, welcher bereits ins Schwarze getroffen, noch gespalten zu haben! Weißt du was? Behalt ihn. Wie klein käme ich mir jetzt vor, ihn wieder zurückhaben zu wollen. Und was ist schon groß. Der Tod ist groß.
Aber noch größer ist was du aus ihm gemacht hast.


P.S. Eben kam eine Nachricht von deinem Freund aus Spanien.
DER 25. JULI IST DER NAMENSTAG UND GROSSE FESTTAG DES SANTIAGO, DES HEILIGEN JAKOBS. ES IST DER HEUTIGE TAG, AN DEM SEIN ANDENKEN GEFEIERT WIRD. ES IST DER WICHTIGSTE UND SPIRITUELLSTE TAG FÜR SANTIAGO DE COMPOSTELA UND:
FÜR ALLE JAKOBSWEGPILGER!!!


Ich wusste, du wirst ihn gehen, deinen Jakobsweg. Gute Reise, mein Freund.


Am Anfang ist kein Wort

"Als ich hinunterstieg zum Rio Grande,
war da noch immer dieser Käse in meinem Kopf.
Dieser verdammt harte Käse. Wie ein Nagetier hatte ich meine Vorderzähne in einen besonders alten Schafskäse geschlagen und mir mühsam kleine Käsekrumen abnagt"

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, aber irgendwann bei Käse und Wein sprachen wir über das Schreiben, der amerinische Freund und ich.

Ich schreibe ja nicht mehr, seit ich aufgehört habe. Ich würde gerne wieder anfangen. Aber all die nichtgeschriebenen Worte eines ganzen Jahres plus das Jahr selbst, also die Zeit, die vergangen ist, ergeben eine Last die mich niederdrückt sobald ich nur ans Anfangen denke.
"Schreib doch über den Käse!" sagte der Freund. "und wie mühsam es ist, ein Stückchen davon abzubeißen. Nur ein paar Worte."

Worte. Wie alte, vertrocknete Brezeln stecken sie mir zwischen den Rippen. Gleich neben den Brezeln liegt übrigens ein mumizfizierter Fisch, der einmal mein Herz gewesen ist.

Als ich später vom Berg hinuntersah auf den Fluss, glaubte ich plötzlich am Ufer ein gelbes Eierschwammerl zu sehen. Mit einem Mal drehte sich der Fisch in meiner Brust auf die andere Seite und seufzte tief auf. Ich hab mich vielleicht erschrocken! (Immerhin war er tot.)

Es ist Abend geworden, und ich nage weiter an meinem Käse. Diesmal an einer weicheren Stelle.

Soll das jetzt ein Anfang sein?
Nagen und Denken. Die sind schon miteinander verwandt.

Angekommen

Ich bin angekommen, würde ich sagen wollen. Angekommen in meiner neuen Stadt, in meinem neuen Leben, welches so anders ist, als ich es mir vorgestellt hatte. Wien hat ja nicht auf mich gewartet, sondern ich hab auf Wien gewartet. Bis ich es nicht länger aushielt in meiner alten Stadt, so lange habe ich auf Wien gewartet. Eines Nachts ist Wien dann zu mir gekommen, im Traum. Pack deine Sachen, hat es gesagt. Mach einfach! Mir war das unheimlich. Geradezu absurd war das Gefühl, morgens bei bei meinem Chef anzurufen und ihm zu sagen, dass ich seine Stadt, sein Theater und sein Ensemble verlassen werde. Für die Liebe, sagte ich. Das verstand er. Dieses Argument verstehen wahrscheinlich alle Menschen überall auf der Welt.
Dann ging eigentlich alles sehr schnell, weil immer alles sehr schnell geht, was ich wirklich will.
Als ich in Wien ankam, war die Liebe nicht mehr da. Sie war weitergezogen, zu einer anderen Frau, oder zu mehreren. Was weiß ich. Eigentlich spielt das auch keine Rolle mehr. Sie hat mich nach Wien gerufen, und bevor sie sich verzogen hatte, waren Wien und die Liebe eigentlich ein- und dasselbe gewesen. Ein Mischgefühl aus Abenteuer, Literatur, Architektur und Erotik. Es gibt bestimmte Plätze in Wien, die ich jetzt meide, weil an ihnen ein Kuss oder ein bestimmter Satz klebt, den die Liebe dort hat liegen lassen. Glücklicherweise sind es nur wenige, sonst hätte ich mir überlegen müssen die Stadt wieder zu verlassen, da es unmöglich gewesen wäre, Liebesleerstellen zu finden.

Jetzt ist es Winter. Die Stadt und ich, wir haben uns miteinander vertraut gemacht. Sie hat mir Menschen gegeben, die zu mir passen. Sie hat mir ein Weihnachtszuhause und eine Weihnachtsfamilie geschenkt. Im Gegenzug gebe ich ihr alles, was ich habe. Meine Begabungen, Talente, meine Zeit und meine Arbeit. Viel Neues entsteht. Ich bin meinem Traum von einem selbstbestimmten, kreativen Leben nicht nur ein Stück näher gekommen. Ich bin mitten drin.

Stakkato

Arbeit.
Arbeit.
.
.
Wunsch:
Aussteigen,
Veränderung,
Weggehen.
Stark.
Plötzlich:
Drei freie Tage.
Verwunderung.
Ich registriere:
Unermessliche Weite.
Reflexhafte Möglichkeiten.
Der Neokortex als Schnellkochtopf.
Eine Wespe fliegt durchs Zimmer.
Dann: Die Festsetzung.
Klick.
AB8762
Wien
Mitnehmen:
Schuhe
Konzertkleid
Noten
Lockenwickler
Dann: die Aussetzung.
Bitte nicht Anschnallen.
Während des Fluges
Ausstieg links.
Ich registriere:
F41.0
Im freien Fall
Flügelwuchs.
.
.
Leben.
Leben!

Schreiben. Eine Erregung. Kapitel 1-6

1.

Was stöhnt sie denn?"
"Sei still, sie weint."

So wie sich das Wasser überlaufend an die Ränder drängt, so sammeln sich Wörter, verdichten sich, wollen hinaus und geschrieben werden. Aber warum, und zu welchem Zweck? Wen drängt es, dieses Geweinte zu lesen? Wer will teilhaben an ihm? Und - darf man diese Frage stellen, als Schreibender? Hat sie je einer gestellt, den es drängte, der schreiben musste?
So fragt sich einer, der es doch wissen müsste. Den das Schreiben selbst am Leben erhält, dem es Balsam und Gift zugleich ist.

"Schreib!" hatte er gesagt. " Wenn du nicht schreibst, wird es dich umbringen. Aber es bringt dich auch um wenn du schreibst. So oder so. Du kannst nirgendwo hin. Je früher du beginnst, desto besser."

Das war vorgestern.

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2.
"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heißt ein
Altes Liedchen - "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht!"...

Sie trennte dem Fisch den Kopf ab, und als wäre das nicht genug, stach sie ihm langsam mit einem spitzen Messer auch noch die Augen aus. Damit er sein eigenes Leid nicht mit ansehen muss, sagte sie. Ich trug zwei Teller zum Tisch, während sie den Fisch in der Pfanne wendete. Das war mittags.

So, wie man ein Kind mit sich herumträgt, neun Monate im Leib. So trage sie ihre Geschichte mit sich herum, hatte sie gesagt. Doch die Angst hielte sie davon ab, zu schreiben. Die Angst, dass sich alles Bahn brechen würde. Dass sie den Lauf der Dinge nicht würde voraussehen können. Dass die Geschichte sich dann selbst schriebe, sie wieder einholen würde. Und mit ihr alle Anderen, die darin vorkämen.

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3.

"Auch meinen Schlüssel nahmen sie hinweg,
die Himmlischen,
und warfen ihn ins Meer."


Heute klingt ihre Stimme ein wenig freier. Sie hätte angefangen, sagt sie. Mitten in der Nacht sei sie aufgewacht und hätte zu sich selbst gesagt : Jetzt ist es soweit!
Sie sei aufgestanden, langsam, sei ins Nebenzimmer gegangen, um sich ein Blatt Papier zu holen und den gelben Bleistift. Er hätte schon ewig dagelegen, mehrere Zeiten lang. Jetzt nahm sie ihn auf, prüfte seine Spitze, die sie sich in den Finger drückte, und roch an dem lackierten Holz. Ein Geruch, der sie noch immer an die ersten Tage ihrer Schulzeit erinnerte. Ganz ruhig sei sie auf einmal gewesen. Ihre nackten Füße auf dem Holzfußboden, die kühle Nachtluft, welche durch das Fenster hereindrang und ihren unbekleideten Körper streichelte, das sanfte Licht der Straßenlaterne, welches von draußen ins Zimmer fiel, all dies hätte ihr die Gewissheit gegeben, dass es jetzt gut sei. Dass der Moment gekommen wäre, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte. Dann sei sie zurück ins Bett gestiegen
und hätte begonnen. Einfach so.

Ob es ihr nichts ausmache, sich mir so ganz und gar anzuvertrauen, zu reden angesichts der Bedrohung meines Schweigens. Und ob sie nicht befürchte, sich mir untertan zu machen durch ihren Drang, sich zu offenbaren.
"Warum fragen Sie? "
Und dann, nach einer Weile:
"Nein. Was soll mir noch geschehen?"

einäugig die Vorsicht:
Geheimes versenkend
nicht achtend aber
flaches Gewässer

Stille! Sie ahnt.


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4.

"Durch jene schmale Öffnung
dringest du zu einer Höhle,
deren Innerstes verwahrt
dein Buch des Lebens. -

Nun eile!"


Die Erinnerungen kamen langsam, zuerst bruchstückhaft, später flossen sie durch sie hindurch und drängten sich schneller auf, als sie schreiben konnte. Manchmal musste sie die Ordnung der Ereignisse erst wiederfinden, ihren Ablauf rekonstruieren. Ein Ereignis jedoch stand unverfälscht und unverrückbar im zeitlichen Ablauf der Dinge vor ihrem geistigen Auge. Es hatte all die Jahre im hintersten Winkel ihres Gedächtnisses überlebt und hartnäckig jedem Versuch seiner Verfälschung, Beschönigung oder gar Bereinigung durch allzu beflissene Therapeutenhände widerstanden. Jetzt schrieb es sich sozusagen selbst hinaus. Sie musste nichts tun, nichts in Worte fassen oder nach einer Sprache suchen, sie musste nur diesen dunklen Gang in ihrem Innern freihalten und darauf achten, dass kein Gedanke die Übertragung der Aufzeichnung störte.

Nachdem wir uns bereits am Morgen gesehen hatten, fiel ich in einen Schlaf, der den ganzen Tag andauerte bis zur Dämmerung. Das Zimmer war erfüllt von einer seltsamen Einsamkeit. Ich dachte an ihre dunklen Augen, die halb geschlossen waren wenn sie redete und die eine Art Traurigkeit in sich bergen, von der man selbst befallen wird wenn man nicht wegschaut. Vielleicht muss ich davon ausruhen, von dieser Schwäche, von ihrer Zerbrechlichkeit, an welcher ich ja in gewisser Weise teilhabe, jetzt, da sie mir ihre Geschichte erzählt. So wie alle Menschen aneinander teilhaben, wenn sie sich erst einmal in das Innere des Dschungels begeben um sich dort ihre Geschichten zu erzählen. Ob sie es nun wissen oder nicht.

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5.


"Seid ihr alle da?"
"Zähl nur, Schwester - ja!"


Der erste Schultag nach den Ferien war ein warmer, sonniger Augusttag. Sie lief durch die Pfützen, die sich im aufgerissenen Schotter der Straßen gesammelt hatten und versuchte, so genau und vorsichtig in das Wasser zu treten, dass es nur ihre Schuhsolen, nicht aber die weißen Strümpfe benetzte. Sie hatte diese Art zu gehen als ein Spiel erfunden, sie wettete jedes Mal mit sich selbst, ob sie es schaffen würde, sich nicht die Strümpfe zu beschmutzen, und als sie durch das schwere Eisentor in das Schulgebäude eintrat, triumphierte sie.
Der Lärm auf den Gängen verteilte sich zugleich mit den Kindern nach und nach in die Klassenzimmer. Die Luft vibrierte von der Aufregung des ersten Schultages, es roch nach frisch gedruckten Büchern, Umschlägen aus Plastik und Bleistiften. Dieses Zukunft verheißende Lachen der Kinder, hier würde es immer zu finden sein, innerhalb dieser Mauern gab es keine Leere, keinen Tod. Der schrille Ton der Schulglocke zerriss die Luft, und nach und nach schlossen sich alle Türen.
Nur sie war in keines der Zimmer gegangen.
Sie stand allein in der Mitte des langen Flures und versuchte sich zu erinnern, in welche Klasse sie gehörte. Sie presste ihr heißes Gesicht gegen den grauen kühlen Lack der Tür, ihr Ohr versuchte vergeblich ein Geräusch einzufangen, eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. Laut las sie die Nummern der Klassenräume, die ihr jedoch nichts sagten, ebensowenig wie die bunten Bilder an den Türen. Sie wusste mit einem Mal nicht mehr, wie sie hierher gekommen war. Alles, der Name ihrer Lehrerin, die Zimmernummer, der Schulweg, jedes Ereignis löste sich allmählich in verschwommene Nebel auf, sobald ihr Verstand danach fassen wollte. Sie durchsuchte angestrengt jeden Winkel ihres Gedächtnisses nach brauchbaren Spuren, die sich jedoch sofort in die Unendlichkeit des Vergessens verkrochen, sobald sie ihrer habhaft zu werden glaubte. Die Einsamkeit des Flures kroch an ihren weißen Strümpfen herauf, legte sich allmählich an die Ränder ihres Körpers und wurde nach und nach zu ihrer einzigen Gewissheit. Während sich ihre Augen weiteten und kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn abzeichneten, zählte der Zeiger der Schuluhr eine Zeit, welche schon nicht mehr die ihre war.
Und während sie auf der frisch gebohnerten Treppe saß, die zum zweiten Stock des Gebäudes führte, (diese Treppe war ihre einzig Verbündete in diesem Moment, und noch Jahre später bewirkte der Geruch von Bohnerwachs eine sofortige und totale Entspannung bei ihr), während sie also auf dieser Treppe saß, da fiel sie langsam aus der Zeit heraus.

Es gibt Tage, an denen haben wir nichts zu sagen oder wir können über das, was uns bewegt, nicht sprechen. Gestern kam sie sehr spät. Sie sah mich versonnen aus ihren schmerzdunklen Augen an, während wir nichts taten als da zu sein und zu schweigen. Und dann hörten wir einfach Musik. Musik, von der irgendjemand einmal sagte, dass sie die Fähigkeit habe das auszudrücken was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist zu schweigen.
Das war gestern.


Blind nun
Kairos im fliegenden
Wechsel der Gedanken
so sag mir an

was zwischen uns gewesen


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6.


"Sie gütig, Schwester, wir verschuldens nicht;
sie fehlt uns schon seit gestern!"


Weil sie es nicht besser wussten, diagnostizierten die Ärzte des städtischen Hospitals schließlich eine Hirnhautentzündung. Irgendwann fand sie sich in einem Bett wieder, welches an einer weißgetünchten Wand stand. Hinter der Wand war es Nacht. Von dem Ereignis blieben ihr nur einzelne Wörter als Gedankenfetzen, welche sie leise vor sich hin sprach. Dann ruhte sie aus von ihrer Reise.
Die Ärzte schrieben die hochgradige Erregung ihrer Sinne dem Fieber zu und verordneten Bettruhe. So bemerkte niemand das immer öfter stattfindende Reisen des Kindes in eine andere Wirklichkeit, und selbst einem aufmerksamen Beobachter hätte sich dieser Umstand entzogen. Das Kind selbst sah sich außerstande, eine Erklärung für dieses Phänomen zu finden, es verstellte seine Welt so ganz und gar, auch widersprach es allen seinen bisherigen Erfahrungen. Es blieb ihm ein Rätsel, und nachdem es durch sich selbst nichts darüber erfahren konnte und ohnehin ahnte, dass das Bekanntwerden seines Zustandes einer baldigen Entlassung nicht förderlich war, beschloss es zu verstummen und gab sich einer Sprachlosigkeit anheim, welche es nie mehr ganz verlassen würde und erst Jahrzehnte später vom Schreiben abgelöst werden sollte.

Kapitel 8

"Wer ist das Kind? Es gleicht den andern nicht.
Mit sonderbarem Anstand trägt es sich,
und ernsthaft ist sein Blick."



Wo sie beginnen sollte, fragte sie mich. Ob sie einfach da weitermachen solle, wo sie aufgehört hatte zu erzählen.

Ich wusste, dass sie als Kind lange krank gewesen war. In dieser Zeit hatten tiefgreifende Veränderungen in ihr stattgefunden, die sie selbst nicht bennen konnte, von denen sie aber sagte, dass sie ihr Denken über die Welt gründlich verändert hatten. Ich bat sie, dort anzuknüpfen, in der Zeit, als sie das Hospital verlies. Damals war sie sieben Jahre alt.

Die Willkür, mit welcher die Ereignisse über sie hereinbrachen, verursachte ihr ein zunehmendes Gefühl der Verunsicherung. Wo auch immer sie sich befand, zwischen den Wänden des Hauses, auf einer Straße oder im Wald (der Wald war das Unheimliche überhaupt), überall wurde sie sich jäh der Zerstörbarkeit ihres Körpers und der möglichen Auflösung aller Dinge um sich herum bewusst. Und so verwunderte es sie nicht weiter, als eines Tages ein fremder Mann anstelle ihres Vaters ihre Hand nahm und sie neben sich her durch die Straßen zog.
So hineingestellt in eine Landschaft, die keinerlei Zeichen der Erkennung für sie trug, empfand sie nunmehr Alles und Jeden sowie sich selbst als einen Irrtum. Da sich die Welt ihr so derart verstellte, dass sie weder zwischen Dingen noch unter Menschen eine Art Geborgenheit empfinden konnte, beschloss sie, die Dinge selbst zu richten.
Jeden Abend vor dem Einschlafen sortierte sie in ihrer Vorstellung alle Personen, Ereignisse und deren Ablauf so, wie sie ihr richtig erschienen und wie sie von Anfang an hätten sein sollen. Die Wände ihres Zimmers rückten auseinander und gaben die Bühne frei für das Spiel ihrer Phantasie. So beruhigte sie sich allmählich und schlief ein, träumend von einer Welt, die es nicht gab, und die doch ganz allein ihre war.

Was am Ende lieben bleibt

Als ich heute morgen ein Liebesgedicht
für dich schrieb,
musste ich die Schrift größer einstellen,
und ängstlich klopfte mir die Frage ans Herz,
ob du mich auch dann noch...
auch dann noch lieben wirst,
wenn meine Hände zittern, während sie dir
übers Haar streichen, und ich am Bildschirm
fertig1

Die Andere

Wir trafen uns wieder im Sommer 2010. Zweimal hatten sich inzwischen die Blätter gefärbt. Zweimal hatte der Winter das kleine Städtchen unter dem Schnee begraben, und zweimal war dieser wieder geschmolzen und hatte den kleinen Fluss bedrohlich anschwellen lassen. Jetzt hatte die Stadt den heißesten Sommer seit 15 Jahren.
Sie trug ein luftiges Kleid und hatte das dunkle Haar zu einem Knoten geschlungen, den eine feine Perlmutspange hielt. Als sie mir die Hand gab, umschloß ich vorsichtig ihre Finger, die sehr dünn geworden waren. Ich suchte in ihrem leicht bronzegetönten Gesicht nach neuen Spuren der Zeit, die bei mir selbst so gut angetan waren Panik auszulösen. Aber ihre Haut spannte sich straff über die Jochbögen, und als sie mich anlächelte dachte ich dass sie nicht älter sondern jünger geworden war. Waren mir ihre Gesichtszüge früher herb erschienen, so hatte ich jetzt den Eindruck, dass eine ruhigere, sehr sanfte Art sich zu bewegen und zu sprechen ihrer Erscheinung jene Sinnlichkeit gaben, die sonst eher rundlicheren Körpern vorbehalten ist. Sie hingegen war schlank. Sehr schlank war sie geworden. Und während ich noch damit beschäftigt war, mir das Fremde an ihr vertraut zu machen, legte sie mir mit der tiefsten Dunkelheit ihrer Augen den Blick ins Gesicht.
Die Erkenntnis traf mich mit der ganzen Härte einer Wahrheit, die so und nicht anders hinzunehmen ist, und die nie wieder eine andere sein kann. Sie war erwachsen geworden.

Streitkultur

ist eine Kultur, die nicht jedermann beherrscht. Verfolge ich die aktuelle Diskussion der letzten Wochen in meinen bevorzugten Blogs, sträubt sich alles in mir, daran teilzunehmen. Sehnsüchtig, fast ein wehmütig denke ich an alte Zeiten zurück, in denen dort zwar schon heftig, aber immer auch respektvoll die Klingen gekreuzt wurden. Vor allem aber ging es um inhaltliche Auseinandersetzungen, welche schon auch mal zu persönlichen Seitenhieben verleiten konnten, aber niemals diesen hochneurotischen, verletzenden Angriffston hatten, welcher zum Teil nur noch über eine Person, meist belehrend zu ihr, kaum jedoch noch mit ihr spricht. Warum das so ist, und wie solche kommunikationstechnischen Dynamiken entstehen, darüber denke ich nach. Vor allem aber rette ich ein paar Schätze aus alten Zeiten hier herüber. Blogtheater heißt die Rubrik, die ich heute eröffne, und vielleicht kommen demnächst ein paar neue Dramen hinzu. Stoff gäbe es jedenfalls genug.

Die große Verkündung

(Ursprünglich von hier nun nach hier geholt.)


Thermodynamische Absurdität
in einem bis eintausend Akten.


Personen:
ANH ... Denker u. Dichter
Diadorim... Suchende Dichterin und Denkerin
Parallalie... Dichter u. Denker
Condor: ein Wissender


Condor
tritt auf und blickt sich um

ANH, DIADORIM, PARALLALIE u.a.
sitzen schreibend unter den Bäumen und sind in
stillen Gesprächen miteinander versunken.


Condor
Zieht sich eine Kutte über und Sandalen an die Füße,
holt ein Megafon aus seinem Rucksack und brüllt hinein:

„Alle mal herhören. Ab heute ist hier Schluss mit lustig. Die Menschheit
hat lange genug in der Bedeutungslosigkeit gelebt. Dagegen hab ich jetzt
ein Rezept. Die ultimative Formel für...
Es geht um .... äh...... (Faltet ein Blatt auseinander)

ANH
blickt genervt von seinen
Bamberger Elegien auf
„Wer stört uns hier in der Kontemplation?“

Condor
„Ich hab genau verstanden, was Sie gefragt haben, aber es ist nicht von Belang. Sowieso kann man, wenn man genau hinschaut, erkennen, dass bereits früher nichts von Belang war. Genaugenommen ist die ganze Evolution bis hierher ein einziger belangloser Vorgang. Ein belangloser Irrtum sozusagen. Sie alle und Ihre Dichtungen inbegriffen.

Diadorim:
"Aber mein Arm schmerzt, und ich spüre mein Herz klopfen. Was ist damit?"

Condor:
Thermodynamik. Nichts als Thermodynamik. Da ist ein kleiner Gärungsprozess im Gang. Mehr nicht. Das Herz. Hahaha. 5,7 Hertz. Mehr ist das nicht. Da müssen Sie nicht so ein Geschrei machen.

Diadorim: schweigt betreten.

Parallalie: rezitiert leise
„Wald
in dem
ich ging
für mich
so hin...“


Condor
tippt sich an den Kopf
"Da haben wirs. Die totale Verirrung des Menschen.
Wem soll man jetzt den Vorwurf machen? Der Physik? Oder vielleicht einer Bande von Halbaffen, die da die Revolution ausgerufen haben?"

Parallalie
schüchtern:
Goethe. Sein Name war Goethe.

Condor
"Wollen Sie mich belehren? Ich habe Goethe studiert. Ich habe ihn analysiert, infiltriert, destilliert und spontifiziert. Mit einem einzigen Ergebnis: Der Belanglosigkeit."

Parallalie
"Oh."

Condor
"Goethe war ein Schwachkopf. Wie Newton Joyce auch. Überschätzt. Alle miteinander. Haben alle nicht begriffen, dass die physikalischen Erkenntnisbewegungen nun einfach mal eine ganze Ecke vorgerückt sind. Und was da passiert ist. Und wie es passiert ist. Und warum es passiert ist. Nichts haben die begriffen. Überhaupt nichts. Das gehört aufgearbeitet. Und eingeordnet in eine neue Welt – und... ähm....
schaut auf seinen Zettel
...prozessbegleitende Gesamtverständigung. Aber dafür bin ich ja jetzt da."
(will Parallalie seinen Goetheband entreißen.)
"So, und das geben wir jetzt mal dem guten Onkel. Her damit!"

Parallalie

klammert sich an sein Heft
"Halten Sie ein, das ist doch Dichtung."

Condor
"Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Minzgeschmack. Nichts als Minzgeschmack. Geklagte Ausscheidungen. Tschüss Goethe und Danke."

Parallalie
Gibt ihm traurig das Heft.

Diadorim leise zu ANH:
"Nun unternehmen Sie doch etwas."

Condor:
"Das hab ich genau gehört! Aber wahrlich, ich sage Ihnen:
Wer dynamisiert, und sagt: "Ich unternehme." - der partizipiert, und prosperiert, in dem er seinen Ort in einer Strömung behauptet, der jederzeit von jemanden Anderen eingenommen werden könnte. Dieser Ort aber ist ein Futterort!"

ANH:
"Ich hab Hunger. Könnten Sie sich ein wenig beeilen mit Ihrer Verkündigung?"

Condor:
"Also hören Sie mal, solange Sie sich von dieser Mechanik nicht emanzipieren können, werden Sie nicht erwachsen."

ANH:
dessen Magen mittlerweile hörbar knurrt
"Natürlich. Verzeihung. Fahren Sie fort."

Condor
"Ich verfolge die Kunst, so zu sprechen, dass niemand was damit anfangen kann. Das ist aber genau die Kunst. Genau so zu reden, dass niemand etwas damit anfangen kann. Das selbst noch ein Missverständnis ausgeschlossen ist."

Diadorim:
"Sie meinen, man muss nicht nur nichts zu sagen haben, sondern auch sehr unfähig sein, dieses auszudrücken?"

Condor
Keine Frage. Darum geht es nicht. Ebensowenig wie um alles Andere.
(zieht eine kleine Figur aus dem Rucksack und spuckt drauf, reibt dann
mit dem Taschentuch daran herum.)


ANH:
"Aber, das ist ja ein... Nobelpreis. Wann haben Sie den denn bekommen?"

Condor:
"Wissen Sie, Vergangenheit oder Zukunft, das spielt unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich keine Rolle. Ich hab ihn schon, oder ich hab ihn nicht. Popper und Weizäcker haben sich immer aus der Affäre gezogen. Und Mandelstam hatte einfach Pech, dass er Jude war. Ich hingegen könnte Ihnen den Weg in die nächste Reflexionsmenge aufzeigen."

Diodorim:
"Igel retten wäre mir persönlich jetzt wichtiger."

ANH:
"Ich hab Hunger."

Parallalie:
quengelt
"Ich will mein Buch zurück."

Condor:
Stellt den Nobelpreis, ein kleines goldenes Kalb, in die Mitte, und
tanzt drum herum. Singt:

"Ach wie gut dass niemand weiß, dass ich ....."
Unterbricht und schaut fragend zu ANH, der mittlerweile an einem Grashalm
kaut.

„Ahm... Wie war nochmal mein Name?“


Ende des 1. Aktes

Abgeflaggt

Dramolett in einem Akt von
hier nach hier.

Personen:
Diadorim (dramatischer Sopran)
Terpsichore (Statistin)
Anna Häusler (eine Magd)
Herr Reichenbach (stumme Rolle)

Diadorim (trällernd...)„Ich trage eine Fahne, und diese Fahne ist hoch.
So hoch, dass keiner mehr rankommt, lallallla
Sollen die da unten sich doch strecken. ...
lallalllallla... „

Terpsichore
„Sie halten Ihre Flagge aber auch hoch.
Da kann ja keine Sau was drauf erkennen.
Oder doch... warten Sie!“ (holt sich eine Leiter)

„Ähm, da scheint was draufzustehn.!“

Diadorim: rauft sich die Haare.
„Natürlich, Sie dummes Stück, lesen Sie doch einfach...“
(hebt die Fahne unmerklich noch ein Stück höher)

Terpsichore
„Halten Sie doch mal ein bischen tiefer!
Ja, so! (Na also. Geht doch.)
Also, ich lese da ein Äff.
Geht es noch ein wenig tiefer, bitte? Danke.

Äff....... Errr.......

Diadorim: rollt mit den Augen

Terpsichore:
„Oh man ist das kleingedruckt. Da bekomm ich
ja nen Augenschaden.
Das dritte könnte ein U sein.
Fruuuuuuu...ssssss

Diadorim: (rollt schnell ihre Fahne ein und trollt sich)
zu sich: „Puh, das ist gerade noch mal gutgegangen!“

Terpsichore,
hinterdrein Herr Reichenbach und
Frau Häusler

alle rufend und winkend:
„Waaaaarten Sieeeeeeeeee.... die Löööööööösung!
Wir brauchen die Lööööööööösung! Erlöööööööööööösen Sie uns...!“

Terpsichore
heult
„Oh man, jetzt war ich so nah dran und wieder wars nichts.

Anna Häusler: (nimmt T. tröstend in den Arm)„Macht doch nichts. Die kommt bestimmt wieder.“

Paul Reichenbach:„Hm...“

Verwählt

Das Leben ist hinterhältig. Es hält nichts von dem, was es uns versprochen hat. Das Leben hält nichts, und wir müssen das aushalten. Wir müssen das Leben aushalten, und dazu müssen wir auch noch uns aushalten, in diesem Leben drinnen, das uns so viel versprochen hat und nun nichts hält. Dabei ist das Leben ganz unschuldig. Das Leben hat uns ja nichts versprochen, sondern wir haben uns etwas von ihm versprochen. Jetzt sitzen wir vor unserem Leben, schauen darauf und werden ganz traurig dabei. Das hält das Leben auch nicht lange aus.
Wie in eine leere Schüssel schauen wir in unser Leben hinein. Eigentlich ist sie halb voll, aber wir sehen das nicht. Wir können das nicht so sehen. Um das so sehen zu können, müßten wir blind sein.

Dabei haben wir alle irgendwann einmal die Wahl gehabt. Das sagt einem zumindest jeder: Du hast dir das selbst so gewählt! Ob wir die Wahl haben oder ob die Wahl nicht viel mehr uns hat, ist dabei noch nicht einmal geklärt. Fest steht, dass wir daran glauben, eine Wahl zu haben.
Dabei hatte die Wahl uns bereits lange bevor wir geglaubt haben, wir hätten die Wahl. Bevor wir das bemerkt haben, hatten wir immerhin ein Gefühl der Wahlfreiheit. Das ist nun vorbei. Wir bemerken: Diese eine Wahl, die wir hätten haben können, wir haben sie nicht gewählt. Sie ist uns zugestoßen, wie einem eine Krankheit zustößt oder ein Busunglück.

Das klingt tragischer, als es ist. Man muß nur bereit sein, sich damit abzufinden. Man muß in die Schüssel schauen und sagen: mein Leben hat nicht stattgefunden. Ich habe zwar eine Wahl gehabt, aber ich habe mich verwählt. Ich habe die falsche Nummer gewählt, und deshalb habe ich mein Glück nicht gefunden, oder mein Glück konnte mich nicht finden. Mein glückliches Leben ist an mir vorbeigezogen. Es ist gleich weitergezogen zu einem Anderen, wo es ein besseres Leben gehabt hat als bei mir. Ich hätte mit ihm ohnehin nichts anfangen können. Ich hätte mein glückliches Leben nur unglücklich gemacht.



Anmerkung: Dieser Text entstand unmittelbar nach dem Lesen der "Winterreise" von Elfriede Jelinek. Die Nebenwirkungen sind offensichtlich und ein gutes Beispiel für mich, wie Lesen Sprache direkt beeinflusst, staut, aufreißt und wieder in Fluss bringt, wenn auch in einen anderen als den eigenen.

Liebesversuchsgedicht

Ein Gott hat uns die Sprachen verwirrt.
Unsere Herzen - zwei Türme von Babel.
Im Telefon auf dem Nachtschränkchen
wartet - eingeschlossen - die Liebe.

Löschkultur

Ich habe ein paar Einträge aus meinem Tagebuch wieder gelöscht, weil darunter Gedanken waren, die ich eigentlich nur für mich festhalten wollte. Vermutlich wusste ich gerade nicht, wohin damit.
Wenn ich nicht weiß, wo etwas hingehört, lass ich es meistens irgendwo liegen. Die vergangenen Ereignisse, die zwischen Tag- und Wachtraum mehr etwas von "es passiert mit mir" als "ich erlebe etwas" hatten, gehörten zweifelsohne dazu. Die lagen einfach herum in mir und ich hatte keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Nun ist mein Webtagebuch aber keine Müllkippe, zudem besitzt es diese wunderbare Löschfunktion. Im richtigen Tagebuch, also in unserem Kopf, gibt es die ja leider nicht, es sei denn man fällt auf den Kopf und legt aus Versehen den Hauptschalter um. Das wäre allerdings zuviel des Guten.
Aber auf der externen Festplatte gibt es durchaus Dinge, die könnte man ruhig dem Vergessen anheimgeben, wenn man es sich nur erlaubte. Fotos und Texte zum Beispiel. Ich leide glücklicherweise nicht an dieser Sammelwut, die zwangsweise irgendwann zur Verstopfung führen muss. Ich habe Spaß daran, zu entrümpeln. Ich nehme auch nie etwas mit, wenn ich umziehe. Ich freue mich darauf, alles neu einrichten zu können. Das hat meine Mutter nie verstehen können, dass ich nicht an den Dingen hänge. All die Sachen in Kellern und auf Dachböden. Die schönen Möbel! Na und?

Es wird so viel Unsinniges, Unnützes aufgehoben, aufgeschrieben und, schlimmer noch, verbreitet. Zum Beispiel virtuell. Als wäre das Internet eine einzige Müllentsorgungsstation. Unendlich verschmutzbar. Das denkt man ja vom Universum auch, weshalb man schamlos beginnt, eine Müllkippe daraus zu machen. Dass das Ganze irgendwann wieder zurückkommen könnte, darüber macht sich offenbar niemand Gedanken.
Es gibt immer öfter Beiträge in meinem Lieblingsblog, da möchte ich dem Autor am liebsten zuflüstern Löschen Sie das mal wieder! Das würde ich natürlich nie tun, und ebenso würde der Autor das niemals tun, weil er natürlich in der Überzeugung schreibt, dass seine Worte eine Bedeutung für die Nachwelt erlangen werden, die er bereits zu Lebzeiten nicht hat. Dazu kommt, so vermute ich, ein Glaube, sich selbst auf diese Art konservieren zu können. Digitale Mumifikation gewissermaßen. Der Glaube an die eigene Bedeutung oder - je nachdem - die Angst vor der eigenen Bedeutungslosikgeit lässt eine ganze Generation sich virtuell verewigen. Früher ein Privileg von Pharaonen, setzen nun Greti und Pleti ihre Blogpyramiden in die Landschaft, wofür sie unermüdlich wie Ameisen Textbausteine heranschleppen. Das geht ja auch ganz leicht. Eine räumliche Begrenzung gibt es nicht mehr.

Ich hab natürlich auch meine Pyramide. Aber ich kann nicht bauen ohne zugleich immer wieder abzureißen. Es geht mir nicht um Vollständigkeit, die immer Bedeutungslosigkeit beinhalten muss, es geht mir um die wesentlichen Bausteine meines Lebens. Und die liegen meistens durcheinander. Deshalb bau ich heute hier und reiße da morgen wieder ab.

Vielleicht ist das nur eine Stratagie, der Angst vor dem Tod zu begegnen. Indem man sich Stück für Stück immer schon mal ein wenig selbst abschafft. Aber ich glaube es ist mehr. Es geht um eine Art ständiger Qualitätskontrolle in der mittlerweile grenzenlos gewordenen Entäußerung. Es geht darum, mich selbst zu begrenzen und so, durch das Spüren der eigenen Ränder mich wieder verorten zu können. Peter Bieri sagte in einer seiner Berliner Vorlesungen: "Man hüte sich davor, einen grammatikalisch wohl formulierten Satz bereits als einen Gedanken zu betrachten."
So ist weniger immer mehr, egal, wie herum man es dreht. In diesem Sinne -

Löschen Sie wohl!


BEITRÄGE

Die Andere
Wir sind viele und...
Terpsichore - 29. Nov, 10:28
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So, what would Wittgenstein...
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"Lettre du voyant" muss es richtig heißen. Die verflixten...
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Rimbaud
"Car JE est un autre." (Lettre de la clairvoyance)
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 14:55
Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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