Entscheidung

Sie stand am Rande des Abgrundes, bereit zu springen. Die Zehen ragten leicht über den Krater, die Arme ausgebreitet wie Schwingen federte sie leicht in den Knien. In diesem Moment kam der Hund ins Zimmer. Er humpelte merkwürdig. Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber sein über das Parkett schleifendes Bein lenkte sie ab. Er schnüffelte sich an einer unsichtbare Linie über den Boden entlang bis zum Bett und fiel entspannt in sich zusammen.
Sie atmete tief durch und breitete erneut die Arme aus:
Die Mitte! Entscheidungen werden immer aus der Mitte heraus getroffen.

Der Hund humpelte zu seiner Schüssel vor dem Herd und schaute zu ihr hinüber. Zwei schwarzglänzende Knöpfe über einer schwarzen Ledernase in braunes Fell eingenäht. Vielleicht war er gar nicht echt. So etwas kam vor. Dass sich ein Plüschtier sinnlos am Lebenselixier besoff und nicht mehr steif bleiben konnte...
In ihrer Phantasie war alles möglich. Sie war keine Verfechterin der Logik, überhaupt nicht. Aber sie musste eine Entscheidung treffen, und sie hatte zu viele Alternativen. Intuitiv war da nichts zu machen. Es galt abzuwägen. Punkt für Punkt zusammenzutragen und Vor- und Nachteile gegeneinander aufzurechnen.
Aber dieser Hund. Wieso humpelte er eigentlich? Und was hatte ihre Entscheidung mit seiner Entscheidung zu tun, nur noch drei Beine zu benutzen statt vier? Wieso hatte er überhaupt vier davon, wenn er nur drei brauchte? Verschwendung. Die Natur war verschwenderisch, das Leben sowieso. Zu viele Möglichkeiten. Viel zu viele.
Sie atmete tief durch. Es gäbe da noch eine Möglichkeit. Zusätzlich zu all den anderen. Vielleicht die einzig mögliche überhaupt. Schwarz und leer gähnte der Abgrund vor ihr. Eigentlich war es ganz einfach. Statt vieler Möglichkeiten nahm man die eine. Die Mitte. Aus der Mitte heraus konnte man alles schaffen.
Sie atmete tief ein, breitete die Arme aus und sprang.
Terpsichore - 4. Jan, 10:57

Für Parallalie: Da isser wieder!

parallalie - 4. Jan, 21:19

das ver(p)flicht(et) mich, ungemein zu danken. ich bin die schwelle meiner tür, den schielenden blick auf blake in der linken spalte abzuwandeln, wo die mitte über sich selbst springt. was wäre denn sonst unheimlich? wenn nicht die heimlichkeit der schwelle in der mitte. danke!
Terpsichore - 5. Jan, 08:11

Es ist vielleicht etwas zu poeesk geraten,
aber ich habe es ohne aufzuhalten aus dem Fluß heraus geschrieben. Dabei hatte ich mir vorgenommen: Depressives Schreiben war gestern- auf zu neuen Ufern! Aber so eine Leichtigkeit scheint mir nicht gegeben, die ich immer an anderen bewundere. Ich muss wohl schreiben mit meinen Ver(p)flichtungen. ;-)
june - 17. Jan, 19:44

Der Text ist wunderbar, Mme Terpsichore, ändern Sie nichts, ich bitte Sie, bleiben Sie genau so poesk, wie Sie sind.


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Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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