An Utopien mag ich schon lange nicht mehr glauben, obwohl ich sie begeistert gelesen habe.
Aber die größten diesbezüglichen Werke sind alles Dystopien, die sich noch dadurch auszeichnen, dass sie streckenweise schon erfüllt sind. (Schöne neue Welt, Wir, 1984) Die entsprechenden Zuordnungen zum heutigen Leben überlasse ich der Leserin.
Ganz falsch halte ich es allerdings (muss ich mit Verlaub sagen), wenn die Möglichkeit zur Utopie einem System zu- oder abgesprochen wird. In jeder Gesellschaft sind es nur ganz wenige, die überhaupt an essentielle Verbesserungsmöglichkeiten denken können. Da wäre es schon schön, wenn man überhaupt diese einmal auf ein gemeinsames Häufchen brächte.
Aus meiner Kenntnis des Kommunismus in der Sovjetunion, in der DDR und in China gibt es überall diese Kluft zwischen Arm und Reich und zwischen "Sich über alles hinwegsetzen können" und "erdulden". In Russland ist mir die Nomenklatura ja fast wie ein Adelssystem vorgekommen.
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Und dann mische ich jetzt noch ein gewisses persönliches Ressentiment ein. Meine Frau hat sechs Onkeln, von denen drei aus idealistischen Gründen (mit teilweise akademischen Berufen) nach Russland gezogen sind, weil sie vom Kommunismus überzeugt waren. Sie haben alle ihr Leben lassen müssen, weil sie Deutsche waren. Die anderen Onkel sind auf "natürliche" Weise im Krieg gefallen.
Ich spreche dem Kommunismus jegliche moralische Überlegenheit im Vergleich mit anderen Systemen ab. Es ist ein System. Und es gibt andere, die um nichts besser sind.
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Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich "nachhaltiger Kapitalist". Das wäre ein Kapitalismus, in dem Langfristigkeit und Umwelt als bewertbare Assets enthalten wären. Das spielt es aber leider auch nicht.
Und weil ich gerade bei der Umwelt bin: Ich habe in den Jahren 1983 und 1984 die Saale weiß überschäumt gesehen. Wie die DDR mit der Umwelt umgegangen ist, scheint noch ein bisschen schlimmer als es der Kapitalismus tut.
Nachtrag:
Es mag verwundern, warum Fahrenheit 451 nicht aufscheint. Dieses Buch mit einer gar nicht so schlechten Verfilmung zählt für mich nicht mehr zu Utopie oder Dystopie. Das ist so wie Jules Verne die Vorwegnahme einer technischen Entwicklung im direkten Entwicklungsweg.
Heute stehen Fernsehwände kurz vor der technischen Realisierbarkeit. Die Bilddiagonale ist das wesentliche Merkmal eines Fernsehers. Als ich vor vier Jahren einmal in St. Denis aus der Eisenbahn ausstieg, fühlte ich mich - von unten auf den Bahnhof sehend wie in den Film versetzt. Die Einschienenbahn, die die Pendler absetzt. Nun ist St. Denis nicht die Suburb sondern eher noch Stadtgebiet, wo besonders gern die Jugend revoltiert. Trotzdem waren die dortigen Betonbauten genau dazu angetan, den Eindruck von 451 unmittelbar aufleben zu lassen.
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Übrigens bin ich fest überzeugt, dass Bloggen einmal lebensgefährlich wird.
Lieber Steppenhund, da stimme ich Ihnen vollkommen, wenn sie sagen, dass die Versuche gescheitert sind. Das heißt aber nicht dass man die weniger gute Variante fraglos übernehmen muss, nämlich den Kapitalismus, in dem die Unterschiede mit Verlaub noch unüberbrückbarer sind und auch gewollt, ja Bedingung sind für das System überhaupt. Die Scheere klafft hier viel weiter auseinander. Die große Frage ist doch die: Haben oder Sein. Und die einzige Luft, die man noch atmen kann, ist die der Menschenliebe, das funktioniert aber nur, wenn es diese großen Unterschiede nicht mehr gibt. Aldous Huxleys Neue Welt ist an sich eine Dystopie, der Kommunismus nicht. Eine Negativbeschreibung kann man von jeder Utopie bekommen, wenn sie unter einem dikatorischen System verwirklicht werden soll, da gibt es genug Bilder, die nicht nur auf die DDR verweisen. Kommunismus unter den Bedingungen einer Diktatur zu erzwingen heißt nicht, dass die Werte schlecht sind, sondern verweißt auf das System. Das muss man bitte berücksichtigen. Und dass jede Utopie nur soviel taugt wie die Menschen, die sie verwirklichen wollen oder können, ist wohl klar. Ich verstehe mich auch überhaupt nicht als Kommunistin, ich schau nur: Was waren für Chancen da, und was hat man daraus gemacht. Nachhaltiger Kapitalist ist übrigens ein Paradoxon. Es gibt keine Nachhaltigkeit bei der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, und das wird es immer sein, wenn Sie die Produktionsmittel allein besitzen. Freie Marktwirtschaft ist noch einmal etwas anderes als Planwirtschaft, aber Planwirtschaft haben wir ja jetzt auch wieder, oder als was bezeichnen Sie die Abwrackprämie? Und das soll ökologisch sein? Ich will jetzt ja hier nicht anfangen mit kleinlichen Aufzählungen, was ich eigentlich sagen wollte mit meinem Beitrag ist dies: Man muss nicht - niemals - das Kind mit dem Bade ausschütten und alles verwerfen, nur weil bestimmte Dinge unter bestimmten Bedingungen nicht funktionierten. Und Sie dürfen mir gerne glauben, dass das Gefühl für Ungerechtigkeit innerhalb einer weniger bemittelten Gruppe geringer ist als das einzelner Armer gegenüber ihrem reichen Mindestlohngeber. Fragen Sie mal heute die Hartz4-ler. Da werden Sie vielleicht überrascht sein, was Sie für Antworten bekommen.
"Was waren für Chancen da, und was hat man daraus gemacht." Genau, das ist für mich der Kern der Problematik. Nur was soll man draus machen, im Krieg, dem kalten und den angrenzenden heissen, im Wirtschaftsboykott, weltweit, in aufgezwungener Aufrüstung, der täglichen Indoktrination der westlichen Medien, der Geheimdienste, Fluchthelferorganisationen, zur Spaltung der Gesellschaften, Alles das, ausgehend von völlig zerstörten Städten, Infrastrukturen, ohne Marshallplanhilfen dafür aber endlose Reparationszahlungen, das hätte kein kapitalistisches System überstanden schon gar nicht ein "nachhaltiges" usw. usw. usf.
Ich hab das schon bei mir geschrieben. Den Unterschied zwischen Arm und Reich gibt es bisher in allen - auch kommunistischen - Systemen.
Das liegt nicht am System sondern an der unterschiedlichen Skrupellosigkeit der Menschen.
Dass es in Russland nicht geklappt hat, liegt zumindest nach den Schriften von Marx daran, dass Russland noch ein Agrarland war. Mark hat ganz ausdrücklich ein industrielles System als Vorbedingung vorausgesetzt.
Vielleicht stört sich der Ausdruck "nachhaltiger Kapitalismus". Ich erfinde aber nicht ein neues Wort für etwas, was man mit bestehenden Systemen lösen könnte. Eine Besteuerung von Fusionen, eine "Strafsteuer" für Kündigungen aus betrieblichen Gründen, entsprechende ökologische Steuern wären sowohl in D als auch in A möglich. Unternehmen müssten ihre Excelsheets etwas erweitern und plötzlich käme heraus, dass eine Fusion von Daimler und Chrysler absolut unwirtschaftlich ist.
Der Kapitalismus basiert auf dem System der Ungleichheit. Das stimmt. Die Personen haben unterschiedlichen Ehrgeiz und unterschiedliches Vermögen. Sie alle über den gleichen Kamm zu scheren, ist genauso falsch.
Ich hätte in der DDR gut leben können, selbst als DDR-Bürger. Ich hätte mich in der Wissenschaft vergraben und auch die Bespitzelung durch den institutseigenen Stasimann weggesteckt. Aber wie viele Personen haben diese Möglichkeit. Oder ich hätte mich mit klassischer Musik weg-gefreakt. Die Begleittexte auf DDR-Tonträger waren weitaus besser als die von EMI oder deutsche Grammophon.
Politisch interessiert habe ich mich erst viel später.
Ich bin auch froh, dass ich altersmäßig um die RAF herumgekommen bin. Ich kann einige Aktionen sehr gut verstehen. Ob ich sie billige, kann ich gar nicht sagen.
Das Weblog TERPSICHORE
wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.
Aber die größten diesbezüglichen Werke sind alles Dystopien, die sich noch dadurch auszeichnen, dass sie streckenweise schon erfüllt sind. (Schöne neue Welt, Wir, 1984) Die entsprechenden Zuordnungen zum heutigen Leben überlasse ich der Leserin.
Ganz falsch halte ich es allerdings (muss ich mit Verlaub sagen), wenn die Möglichkeit zur Utopie einem System zu- oder abgesprochen wird. In jeder Gesellschaft sind es nur ganz wenige, die überhaupt an essentielle Verbesserungsmöglichkeiten denken können. Da wäre es schon schön, wenn man überhaupt diese einmal auf ein gemeinsames Häufchen brächte.
Aus meiner Kenntnis des Kommunismus in der Sovjetunion, in der DDR und in China gibt es überall diese Kluft zwischen Arm und Reich und zwischen "Sich über alles hinwegsetzen können" und "erdulden". In Russland ist mir die Nomenklatura ja fast wie ein Adelssystem vorgekommen.
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Und dann mische ich jetzt noch ein gewisses persönliches Ressentiment ein. Meine Frau hat sechs Onkeln, von denen drei aus idealistischen Gründen (mit teilweise akademischen Berufen) nach Russland gezogen sind, weil sie vom Kommunismus überzeugt waren. Sie haben alle ihr Leben lassen müssen, weil sie Deutsche waren. Die anderen Onkel sind auf "natürliche" Weise im Krieg gefallen.
Ich spreche dem Kommunismus jegliche moralische Überlegenheit im Vergleich mit anderen Systemen ab. Es ist ein System. Und es gibt andere, die um nichts besser sind.
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Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich "nachhaltiger Kapitalist". Das wäre ein Kapitalismus, in dem Langfristigkeit und Umwelt als bewertbare Assets enthalten wären. Das spielt es aber leider auch nicht.
Und weil ich gerade bei der Umwelt bin: Ich habe in den Jahren 1983 und 1984 die Saale weiß überschäumt gesehen. Wie die DDR mit der Umwelt umgegangen ist, scheint noch ein bisschen schlimmer als es der Kapitalismus tut.
Nachtrag:
Es mag verwundern, warum Fahrenheit 451 nicht aufscheint. Dieses Buch mit einer gar nicht so schlechten Verfilmung zählt für mich nicht mehr zu Utopie oder Dystopie. Das ist so wie Jules Verne die Vorwegnahme einer technischen Entwicklung im direkten Entwicklungsweg.
Heute stehen Fernsehwände kurz vor der technischen Realisierbarkeit. Die Bilddiagonale ist das wesentliche Merkmal eines Fernsehers. Als ich vor vier Jahren einmal in St. Denis aus der Eisenbahn ausstieg, fühlte ich mich - von unten auf den Bahnhof sehend wie in den Film versetzt. Die Einschienenbahn, die die Pendler absetzt. Nun ist St. Denis nicht die Suburb sondern eher noch Stadtgebiet, wo besonders gern die Jugend revoltiert. Trotzdem waren die dortigen Betonbauten genau dazu angetan, den Eindruck von 451 unmittelbar aufleben zu lassen.
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Übrigens bin ich fest überzeugt, dass Bloggen einmal lebensgefährlich wird.
Zur Versöhnung, des nachhaltigen Kapitalisten wegen:
"Paradoxien erinnern uns daran, dass eine Bewältigung der Welt, in der wir leben, immer nur in Grenzen möglich und somit - unmöglich ist."
Martin Seel
Das liegt nicht am System sondern an der unterschiedlichen Skrupellosigkeit der Menschen.
Dass es in Russland nicht geklappt hat, liegt zumindest nach den Schriften von Marx daran, dass Russland noch ein Agrarland war. Mark hat ganz ausdrücklich ein industrielles System als Vorbedingung vorausgesetzt.
Vielleicht stört sich der Ausdruck "nachhaltiger Kapitalismus". Ich erfinde aber nicht ein neues Wort für etwas, was man mit bestehenden Systemen lösen könnte. Eine Besteuerung von Fusionen, eine "Strafsteuer" für Kündigungen aus betrieblichen Gründen, entsprechende ökologische Steuern wären sowohl in D als auch in A möglich. Unternehmen müssten ihre Excelsheets etwas erweitern und plötzlich käme heraus, dass eine Fusion von Daimler und Chrysler absolut unwirtschaftlich ist.
Der Kapitalismus basiert auf dem System der Ungleichheit. Das stimmt. Die Personen haben unterschiedlichen Ehrgeiz und unterschiedliches Vermögen. Sie alle über den gleichen Kamm zu scheren, ist genauso falsch.
Ich hätte in der DDR gut leben können, selbst als DDR-Bürger. Ich hätte mich in der Wissenschaft vergraben und auch die Bespitzelung durch den institutseigenen Stasimann weggesteckt. Aber wie viele Personen haben diese Möglichkeit. Oder ich hätte mich mit klassischer Musik weg-gefreakt. Die Begleittexte auf DDR-Tonträger waren weitaus besser als die von EMI oder deutsche Grammophon.
Politisch interessiert habe ich mich erst viel später.
Ich bin auch froh, dass ich altersmäßig um die RAF herumgekommen bin. Ich kann einige Aktionen sehr gut verstehen. Ob ich sie billige, kann ich gar nicht sagen.