Verwählt
Das Leben ist hinterhältig. Es hält nichts von dem, was es uns versprochen hat. Das Leben hält nichts, und wir müssen das aushalten. Wir müssen das Leben aushalten, und dazu müssen wir auch noch uns aushalten, in diesem Leben drinnen, das uns so viel versprochen hat und nun nichts hält. Dabei ist das Leben ganz unschuldig. Das Leben hat uns ja nichts versprochen, sondern wir haben uns etwas von ihm versprochen. Jetzt sitzen wir vor unserem Leben, schauen darauf und werden ganz traurig dabei. Das hält das Leben auch nicht lange aus.
Wie in eine leere Schüssel schauen wir in unser Leben hinein. Eigentlich ist sie halb voll, aber wir sehen das nicht. Wir können das nicht so sehen. Um das so sehen zu können, müßten wir blind sein.
Dabei haben wir alle irgendwann einmal die Wahl gehabt. Das sagt einem zumindest jeder: Du hast dir das selbst so gewählt! Ob wir die Wahl haben oder ob die Wahl nicht viel mehr uns hat, ist dabei noch nicht einmal geklärt. Fest steht, dass wir daran glauben, eine Wahl zu haben.
Dabei hatte die Wahl uns bereits lange bevor wir geglaubt haben, wir hätten die Wahl. Bevor wir das bemerkt haben, hatten wir immerhin ein Gefühl der Wahlfreiheit. Das ist nun vorbei. Wir bemerken: Diese eine Wahl, die wir hätten haben können, wir haben sie nicht gewählt. Sie ist uns zugestoßen, wie einem eine Krankheit zustößt oder ein Busunglück.
Das klingt tragischer, als es ist. Man muß nur bereit sein, sich damit abzufinden. Man muß in die Schüssel schauen und sagen: mein Leben hat nicht stattgefunden. Ich habe zwar eine Wahl gehabt, aber ich habe mich verwählt. Ich habe die falsche Nummer gewählt, und deshalb habe ich mein Glück nicht gefunden, oder mein Glück konnte mich nicht finden. Mein glückliches Leben ist an mir vorbeigezogen. Es ist gleich weitergezogen zu einem Anderen, wo es ein besseres Leben gehabt hat als bei mir. Ich hätte mit ihm ohnehin nichts anfangen können. Ich hätte mein glückliches Leben nur unglücklich gemacht.
Anmerkung: Dieser Text entstand unmittelbar nach dem Lesen der "Winterreise" von Elfriede Jelinek. Die Nebenwirkungen sind offensichtlich und ein gutes Beispiel für mich, wie Lesen Sprache direkt beeinflusst, staut, aufreißt und wieder in Fluss bringt, wenn auch in einen anderen als den eigenen.
Wie in eine leere Schüssel schauen wir in unser Leben hinein. Eigentlich ist sie halb voll, aber wir sehen das nicht. Wir können das nicht so sehen. Um das so sehen zu können, müßten wir blind sein.
Dabei haben wir alle irgendwann einmal die Wahl gehabt. Das sagt einem zumindest jeder: Du hast dir das selbst so gewählt! Ob wir die Wahl haben oder ob die Wahl nicht viel mehr uns hat, ist dabei noch nicht einmal geklärt. Fest steht, dass wir daran glauben, eine Wahl zu haben.
Dabei hatte die Wahl uns bereits lange bevor wir geglaubt haben, wir hätten die Wahl. Bevor wir das bemerkt haben, hatten wir immerhin ein Gefühl der Wahlfreiheit. Das ist nun vorbei. Wir bemerken: Diese eine Wahl, die wir hätten haben können, wir haben sie nicht gewählt. Sie ist uns zugestoßen, wie einem eine Krankheit zustößt oder ein Busunglück.
Das klingt tragischer, als es ist. Man muß nur bereit sein, sich damit abzufinden. Man muß in die Schüssel schauen und sagen: mein Leben hat nicht stattgefunden. Ich habe zwar eine Wahl gehabt, aber ich habe mich verwählt. Ich habe die falsche Nummer gewählt, und deshalb habe ich mein Glück nicht gefunden, oder mein Glück konnte mich nicht finden. Mein glückliches Leben ist an mir vorbeigezogen. Es ist gleich weitergezogen zu einem Anderen, wo es ein besseres Leben gehabt hat als bei mir. Ich hätte mit ihm ohnehin nichts anfangen können. Ich hätte mein glückliches Leben nur unglücklich gemacht.
Anmerkung: Dieser Text entstand unmittelbar nach dem Lesen der "Winterreise" von Elfriede Jelinek. Die Nebenwirkungen sind offensichtlich und ein gutes Beispiel für mich, wie Lesen Sprache direkt beeinflusst, staut, aufreißt und wieder in Fluss bringt, wenn auch in einen anderen als den eigenen.
Terpsichore - 10. Feb, 09:34
4 Kommentare - 1926 mal gelesen - Kommentar verfassen
L.L. (Gast) - 8. Apr, 14:43
verwählt
gefällt mir gut. L.
Terpsichore - 11. Apr, 08:58
Wenn man bestimmte Tatsachen nicht leugnet, sondern sie beschreibt, bleibt scheinbar nicht mehr viel übrig außer einem Haufen Dreck. Aber dieser kleine Misthaufen ist wahrhaftig. Er hat etwas von selbstgemachten Eierkuchen und er ist etwas, worauf man sich beziehen kann. Ist das nicht sehr tröstlich?
"Das hätte ICH schreiben können." habe ich nun schon mehrfach gehört, auch von Freunden, die den Text lasen. Was wiederum mich betroffen macht. Es scheint öfter so zu gehen als man denkt, und als einem die Menschen glauben machen wollen.