Tagebuch

Einsamkeit

Einsamkeit.
Vom Aussterben bedrohtes Gefühl.
Wurde gesellschaftlich in die Kategorie der unangenehmen
Gefühle verbannt und ist deshalb seit kurzem nur noch
selten anzutreffen.
Bevorzugter Lebensraum: Innen
Blütezeit: Weihnachten

Vom Nichts, das irgendwie nicht sein kann.

Letzte Nacht träumte ich von den toten Großeltern stiefväterlicherseits. Es war das erste Mal, dass ich in dieser Art vom Tod träumte. Dieses gefühlsmäßige Erfassen von etwas, das nicht wiederkehrt, niemals wiederkehren kann, ist eine völlig neue Erkenntnis für mich. So fühlt sich also der Tod an, dachte ich. Nicht die Idee vom Tod, sondern das Nichts, das er ist. Es erfasste mich solcher Wucht, dass ich aufwachte und die restliche Nacht wach lag. Die ganze Vergänglichkeit des Lebens, auch meines eigenen, wurde mir auf einmal derart intensiv ins Gefühl gedrückt, dass ich sofort beschloss, mindestens ein Kind zu bekommen und jede Woche einmal meine Mutter zu besuchen. Damit nicht Nichts bleibt. Dafür haben wir kein Programm, das zu begreifen. Dass Nichts von uns bleibt. Dabei ist eigentlich alles wurscht, wenn man sich tatsächlich mal traut, zu erfühlen, was das heisst, dass eines Tages sowieso alles vorbei ist. Auch ob wir erfolgreich oder nicht oder einsam oder mit Nachkommen gesegnet sterben. Fakt ist, dass wir einfach nicht mehr da sind. Da ändert auch kein geschriebenes Buch was dran. Das wirklich zu erfassen, sich nicht dem Trost und der Illusion hinzugeben, dass da noch was bleibt von oder für uns selbst, und selbst wenn, wird auch das eines Tages vergessen sein, Geschichte zumindest, und die, die sich erinnerten, werden selbst sterben etc... Ein einziger Kreislauf des Todes. Von vorne betrachtet sieht das Leben so zukünftig aus. Diese Nacht habe ich es vom Ende aus gesehen. Das wirft völlig andere Seiten auf. Wieso verschieben sich die Wertigkeiten so plötzlich? Überhaupt. Mit dem Sterben ist das so eine Sache. Und mir fällt wieder Parallalies Satz ein:
Gehen ist ein Tanz, den einem Niemand beigebracht.

Zuhause

Der Herbst war ihr die liebste Jahreszeit. Die Straßenmenschen wurden langsamer in ihren Bewegungen. Wenn sie in ihre Gesichter sah, schauten sie zurück. Manche mit suchendem, andere mit wissendem Blick, nie aber hastig. Die Kälte schien die Menschen einzufrieren in ihrem hektischen Gang. Warme Wollsachen, Schals und Mützen durften aus den muffigen Schränken in die frischkalte Luft und hingen nun dankbar wärmend an älteren Menschen.
Die Jugend stand noch mit offenen Krägen in kleinen Grüppchen unter den Abendlaternen und wollte das Sommerlachen festhalten.

Sie lief durch die Straßen ihres herbstbunten Städtchens und lud den Frost in ihr Gesicht ein. Sollte er sich festbeißen bis sie nach Hause käme, wo das das Feuer eine angenehme Wärme verbreitete und ihn freundlich aber bestimmt verdrängen würde.
Nach Hause. Sie sprach in Gedanken diese Worte und versuchte ihre Bedeutung zu erfassen. Wann ist man zu Hause. An der Giebelwand ihres Hauses stand in großen Buchstaben: "Zu Hause ist wo man hingeht, wenn einem die Orte ausgegangen sind." Barbara Stanwick. Vermutlich war sie viel gereist, diese Barbara.
Sie selbst hatte noch nicht allzuviel von der Welt gesehen. Und doch waren ihr beizeiten die Orte ausgegangen. Sie zog von Stadt zu Stadt, schlug überall sofort Wurzeln und wollte sogleich wieder weg. Irgendwann hatte sie bemerkt, dass es keinen Sinn machte, hin und her zu ziehen. Man musste sich doch selbst immer mitnehmen. Ihr schwerstes Gepäckstück, welches sie immer und überall mit sich herumschleppte, war sie selbst. Nie hatte sie es geschafft, sich ihrer zu entledigen. So sehr sie sich auch bemühte, und so weit sie auch reiste. Sie hing fest an sich dran. Fast wäre sie im letzten Jahr wieder umgezogen, als ihr der Gedanke kam, es müsse doch möglich sein, sich bei sich zu behalten und einen angemessen Platz für sich zu finden, in sich selbst. Vielleicht würde sie auf diese Weise bleiben können. Das Städtchen in welchem sie wohnte gefiel ihr nämlich ausnehmend gut, und nachdem keine Stadt mehr übrig war, in welcher sie nicht schon gewohnt hätte, bekam sie allmählich das Gefühl, dass ihr die Orte ausgingen.
Vielleicht ist es ja das, was man Zuhause nennt, dachte sie. Der Ort, an dem man mit sich selbst sein konnte.

Warten

Zur Zeit nur Arbeit. Keine Zeit zum Schreiben. Auch die Buchmesse musste ausfallen, worüber ich sehr traurig war. Nächste Woche wird ein wenig Luft sein. Dann kann geerntet werden, was innerlich schon wieder reif ist. Solange muss es noch warten, und ich auch.

Die Verkündung

findet heute hier >>>>>> statt.

Was ist geblieben.

Wiedervereinigung. Klingt irgendwie soviel besser als "Anschluss ans Reich" und bietet Gelegenheit, darüber nachzudenken, was eigentlich geblieben ist von den damaligen Zielen. Damals sind Menschen auf die Straße gegangen und haben nicht weniger als ihr Leben riskiert, weil sie eine Vision hatten. Eine Veränderung der Gesellschaft dahin, dass es mehr Glück gibt für den Einzelnen, mehr Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, Gedankenfreiheit. Das waren Begriffe, die später schnell abgelöst wurden durch Bananen, D-Mark und Reisen. Das muss man sich einmal klar machen, dass da etwas untergangen ist, worin wirklich eine große Chance gelegen hat. Es ist schon klar, dass erst das Fressen kommt und dann die Moral. Aber das große Fressen ist vorüber. Und jetzt? Nichts mehr. Der Mensch bleibt Konsument. Hauptberuflich. Hauptsächlich. Daneben kann er schon ein wenig individuell sein. Hauptsäche er reist, kauft ein und fährt Auto. Möglichst Hausmarke. Und vorausgesetzt, er hat einen Arbeitsplatz.
Fürs Überleben ist gesorgt. Und weil alle Menschen gleich sind, gibts dafür eine Pauschale. So hat keiner mehr als der andere. Da haben wir sie, die soziale Gerechtigkeit. Falls jemand daran zweifelt. Dass Arbeit ein Grundbedürfnis und der Mensch zuerst ein soziales Wesen ist, dass er sich erst individuell entwickeln kann im sozialen und ökonomischen Schutz einer Gemeinschaft, darüber denkt man nicht mehr nach. Die Kunst ist frei, der Künstler noch freier. So frei, dass er sich selbst überlassen bleibt. Eine große Einsamkeit liegt heute im Künstlersein.
Gestern kam im Radio ein Interview mit Konwitschny, der gerade Luigi Nono "Al gran sole carico d'amore", inszeniert, die bereits 2004 in Hannover lief. Damals war ich dort bei den Proben dabei und fand dieses Stück im Westen irgendwie deplatziert. Ich sprach den Menschen dort ab, Utopien wie diese verstehen zu können. Aber es hatte großen Erfolgt sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik, weil man verstand, was man hätte haben können. Al gran sole carico d'amore, Unter der großen Sonne von Liebe beladen. Eine Verbeugung vor all jenen, die diese Gesellschaft verändern wollten dahingehend, dass der Mensch glücklicher wird, indem diese riesigen Unterschiede beseitigt werden zwischen arm und reich. Ein kommunistisches Stück im besten Sinn. Und man kann sich fragen, warum dies gerade jetzt im Oktober inszeniert wird in Leipzig, wo der Ursprung jener sogenannten Revolution lag, die letzten Endes gar keine mehr war.
Weshalb auch die ganzen Sendungen im Fernsehen zum Jahrestag in ihrer Sentimentalität und Tränendrüsendrückerei für mich reine Folklore sind. Die große Freiheit ist wieder in weite Ferne gerückt.
Wir sind noch mit dem großen Fressen beschäftigt. So sehr, dass wir nicht einmal bemerken, dass wir seit 2 Jahren wieder im Krieg sind.

Das Unaussprechliche

Die Tür fällt ins Schloß.
Stille. Sie bemerkt, eine lange Leere ist mit ihr in diesem Zimmer. Irgendwann kommt die Zeit zurück und tritt gleichsam in ihr Bewußtsein. Dann der Moment, in welchem sie wieder zu atmen beginnt. Zeit und Atem gehören zusammen, bemerkt sie. Sie nimmt wahr, daß sich ihr Körper in diesem Zimmer, auf diesem Bett befindet. Sie muß also am Leben sein. Sie ist sich nicht sicher. Die Zeit füllt jetzt den ganzen Raum und nimmt den Platz dessen ein, der gegangen ist.

Die Zeit war nie ihr Feind gewesen. Der Feind hat einen anderen Namen, den sie nicht nennen will, denn bereits das Aussprechen seines Namens kann ihn zum Kampf reizen. Ein Augenblick der Ruhe ihrerseits oder eine kleine Unaufmerksamkeit öffnen ihm das Tor zu seinem Kampfplatz. Dann betritt er die Arena, überzieht ihren Körper mit Krieg und legt Brand in den Feldern ihrer Seele.

Am Anfang kam es vor, daß sie ihn nicht sogleich erkannte und deshalb unvorbereitet war. Oder, ein verheerender Irrtum, einen harmlosen Gegner vermutete. Dann war der Kampf kurz, und sie blieb mit zerschmetterten Knochen auf dem Schlachtfeld liegen.

Selten, aber es geschah hin und wieder, so wie heute, da kam jemand, der nahm ein kleines Gefäß, öffnete es und lies daraus etwas in ihre Wunden rieseln. Dann half ihr die Zeit wie eine Verbündete, denn in dem Maße, wie sich der Schmerz ausbreitete, zog sie sich zusammen, bis Vergangenheit und Zukunft an einem Punkt im Jetzt zusammentrafen. Das war der Zeitpunkt ihrer Erlösung. Ein Akt der Gnade, den ihr die Zeit gewährte. Sie wurde aus sich selbst verstoßen und einer anderen Sphäre anheim gegeben, in welcher der Feind keine Macht über sie hatte. Nun konnte sie ihn in Ruhe betrachten. Er war nicht mehr als ein Zeichen. Eine Schrift, die langsam verblasste. Sie verstand nicht, wie ihr etwas derart Einfaches so gefährlich sein konnte. Das Unaussprechliche ballte sich zu einem Laut in ihrer Kehle, und mit einem langen Schrei spie sie ihn aus sich heraus. Da lag es vor ihr auf dem Boden und zerfiel langsam zu Staub.

Sie lauschte. Da war nichts. Außer der Zeit, welche langsam den Raum füllte, den Staub auf dem Boden übersah und ihren Körper bis an seine Ränder einnahm.

Vorstellung

Angeregt von >>>p.`s Ausgrabungen seiner ersten Gedichte suchte ich heute eines meiner ersten Tagebücher heraus, in welchem ein Zettel eingeklebt ist mit meinem ersten Gedicht. Es ist kein selbst verfasstes, sondern ein Geschenk von einem Jungen. Ich war 16, und wir lernten uns während einer Klassenfahrt in einer Jugendherberge kennen. In der letzten Nacht stahl er sich heimlich in unser Zimmer, das war damals mehr als tollkühn, meine Freundin machte diskret Platz im Doppelbett, und wir saßen uns die halbe Nacht lang gegenüber, jeder eine Flasche Bier in der Hand, und redeten darüber, was wir vom Leben erwarteten. Er wollte studieren und Lehrer werden. Ich wollte gar nichts, außer meine Ruhe, das Ende der Schule und den Weltfrieden. Zum Abschied gab er mir einen kleinen Zettel in die Hand, den ich erst nach seiner Abreise lesen sollte. Es war unten stehendes Gedicht.
Damals begriff ich natürlich nichts von der philosophischen Bedeutung seiner Worte, mich interessierte hauptsächlich, ob ich nun gemeint war oder nicht, und dass dem 3. Fall die Endung fehlte. Der letzte Satz blieb mir allerdings im Gedächtnis und hat mich wie eine Mahnung immer wieder verfolgt. So hat mir nicht nur meine eigene Vorstellung von Anderen oft die Freude an ihnen versagt. Auch die Vorstellung darüber, wie ich zu sein habe, wirkt, wenn sie mit der Muttermilch aufgesogen, wie ein schleichendes Gift lebenslang. Das zu erkennen, die Fäden zu durchtrennen, die uns gebunden fühlen lassen an Wertvorstellungen und Maßstäbe, die nie unsere eigenen waren und es nie sein können, ohne die Verbindung zu den Geliebten selbst zu durchtrennen, ist immer wieder ein kleines Abenteuer. So wird mich mein erstes Liebesgedicht vermutlich bis an mein Lebensende begleiten, wenn sein Sinn mittlerweile auch eine ganz andere Bedeutung für mich hat.


Vorstellung

Wie soll sie sein?
Sie soll schön sein.
Sie soll schwarzes, langes Haar tragen.
Ihr Mund soll anziehend sein.
Ihr Körper soll reizvoll sein.
- Ja, so soll sie sein!
Doch ist es nicht gerade die Vorstellung, die dem Mensch
manch Freude des Lebens versagt?

S.L., 24.2.1986

Poetry Night II - und ein Abend mit L.

Wir kamen zwei Minuten zu spät >>>> und verpassten die erste Lesung von
Fadhil Al-Azzawi (Irak), was insofern schade war, dass dieser Autor mich am meisten interessiert hätte. Als nächstes las Gerhard Falkner, von dem mir das Letzte, was er las, am nächsten war. "The linguistik turn" - Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs. Abwendung ins Innere, Suche, Dekonstruktion des Pathos, mir gefiel dieses unveröffentlichte und sogar unfertige, wie er selbst sagte, Gedicht viel besser als die "Hölderlin-Reparaturen", die sich mir beim Zuhören schräg stellten.
Von Coral Bracho wird mir die Stimme in der Erinnerung bleiben. Sie sprach ihre Gedichte nicht, sie sang sie. Alles war Klang, Sprachklang, Sprachmelodie. Sehr schade, dass die deutsche Übersetzerin eine trockene Lesart mit fragil-kratziger Stimme hatte, ich weiß nicht, ob das die Aufregung war oder die Trockenheit im Raum, jedenfalls störte es mich, dass es nicht floss. Zumal es im längsten und für mich schönsten Gedicht um das Wasser ging.
Das absolute Highlight des Abends aber war Nora Iuga aus Rumänien, die zu Anfang die Frage stellte, ob Gedichte auch altern, wie die Frauen. Deshalb las sie Gedichte, die sie mit 35, dann mit 55, später mit 75 Jahren geschrieben hatte und forderte das Publikum anschließend zur Diskussion heraus. Die Männer riefen natürlich: Ja! Gedichte altern. Ich fand dies nicht. Wobei die Gedichte der 75jährigen um ein Vielfaches erotischer waren als die der 35-jährigen Dichterin. So viel Kraft und Sinnlichkeit versprühte diese Dame da auf der Bühne, und ja, sie war nicht trotz sondern gerade wegen ihres Alters als schön zu bezeichnen, schöner als viele 30jährige, sie schlenkerte nervös mit den Beinen, sprang ab und an auf, gestikulierte mit den Händen, ihr Gesicht war lebendig, ihre Augen lachten, ihre Stimme war eine einzige Modulation - sie las ihre Gedichte selbst in deutscher Übersetzung - das war faszinierend - so etwas habe ich selten erlebt. Sie war getragen von ihrem inneren Feuer. Ansteckend. Und der Gedanke: so ist Altwerden schön. So will auch ich alt werden.
Danach gabs noch ein Gespräch mit Arundhati Roy, mit welcher das Festival auch eröffnet wurde. Viel Gedränge im Foyer. Wäre B. nicht zu hungrig gewesen, hätte ich ihn auch dazu gedrängt, so gingen wir zum Lieblings-Vietnamesen am Savigny-Platz und saßen dort noch lange nach dem Essen bei einem Gläschen Wein in Decken gehüllt zusammen draußen und sprachen gar nicht mehr soviel. Sich im gemeinsamen Schweigen verbunden fühlen, das ist etwas, was ich mit wenigen Freunden teilen kann, also genoss ich es ausgiebig.

Heute abend geht es unter anderem >>>> hierhin.

Jetzt aber erstmal: Käffchen! Und dann: Flug umbuchen. Retten, was noch zu retten ist, also finanziell. Das Hotel rief auch an, wo ich bliebe.
Ich muss mir jetzt bis heute abend überlegen, wo ich als nächstes hinfliege, sonst verfällt der Rückflug komplett. Was nicht so einfach ist ohne Kenntnis des "Dienstplanes", auf den ich hier am fremden Rechner keinen Zugriff habe, weshalb ich Kollegen anrief, die mir netterweise halfen. Eine Idee habe ich ja schon, und sie scheint auch umsetzbar. Tel Aviv. Ich muss mich nur entscheiden. So wie gestern.

Nachtrag
Nach der Lesung des lib noch zu einer Lesung von L. gefahren nach Moabit. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, dass im Publikum ein ehemaliger Richter vom Landesgericht Berlin saß. "Immer auf der anderen Seite", wie er später im Gespräch betonte, schien er doch ein heimliches Vergnügen darin zu finden, ins Leben derer einzutauchen, die Grenzen gerne und bewusst übertreten. Jedenfalls leuchteten seine Augen, als er über Jack B. sprach, dessen Biografie L. gerade schreibt. Er hatte ihn noch persönlich gekannt, durch ein Beweisverfahren. Eine Verwandte von Jack B. verehrte ihn so, dass sie jeden Zentimeter der Wohnung mit Zeitungsartikeln von ihm zugenagelt hatte. Als man beim Auszug die Bilder entfernen wollte, gab es praktisch keinen Putz mehr, da er Loch an Loch einfach abfiel. In dem Beweisverfahren nun musste Jack B. selbst antreten, und der Richter erzählte nicht ohne Stolz davon, dass er ihn persönlich kennenlernen durfte. Was ihm beim Bewusstwerden dieser Tatsache ein wenig verschämt erröten lies. Da standen sie sich nun gestern gegenüber. Der ehemalige Millionendieb und jetzt Autor - und der Richter. Und sprachen über Literatur.

Kreuzungen

Es ist 10.00 Uhr. In einer Stunde geht mein Flieger nach Mailand. Ich müsste längst eingecheckt haben. Statt dessen sitze ich hier, auf dem Sofa bei B. in Berlin.

B. war meine erste "große" Liebe, damals, vor meinem Studium. Wobei ja jede Liebe jeweils die große ist, jedenfalls empfindet man das währenddessen so. Im Nachhinein muss ich sagen: es war eine der intensivsten.
Wir lernten uns beim Theaterspielen kennen. Die klassische Variante: Liebespaar spielt Liebespaar und verliebt sich ineinander. Wir spielten sozusagen weiter, nachdem das Stück längst abgesetzt war. Bis B. für ein Engagement ans Theater nach K. ging. Den handschriftlichen Briefen, die mich von dort erreichten, fehlte allerdings der tragische Tonfall, den ich mir von einem Geliebten erwartet hatte, der schließlich gezwungen war, fernab von mir sein Dasein zu fristen. Das muss mich so geärgert haben, dass ich aufhörte, sie zu beantworten. Behauptet B. Genau wissen wir beide nicht, warum wir uns damals eigentlich trennten. Jedenfalls haben wir uns irgendwann aus den Augen verloren.

12 Jahre später leben wir in der Welt von Facebook und Stayfriends. Es ist quasi unmöglich, jemanden aus den Augen zu verlieren, es sei denn, er lebt völlig abgeschnitten an einem Ort der Welt ohne Internet oder bedient sich dessen nicht. Die Vergangenheit mit B. klopfte in Form einer Nachricht in meinem Facebook-Postfach an: "B. möchte Sie gerne zu seinen Freunden hinzufügen." Prima, dachte ich, endlich macht dieses Zeugs mal Sinn. Es melden sich ja oft genug Gestalten, die man lieber für immer verloren geglaubt hätte. In diesem Fall war das nicht so, und wir telefonierten am nächsten Tag miteinander. Es war schnell klar, dass wir - die wir beide viel und gerne erzählen - dies nicht am Telefon bewältigen würden. Wir mussten uns also "mal treffen."
Da mein Flieger nach Mailand heute von Berlin geht, bot es sich an, einfach eher zu fahren und B. dort noch zu treffen.

Als er mir gestern die Tür öffnete, war ich überrascht. Ich hatte erwartet, ihn älter vorzufinden. Ich suchte nach kleinen Anzeichen des Verfalls, aber er hat sich kaum verändert, bis auf ein paar Lachfältchen um die Augen. Sein blondes Haar fiel ihm ins Gesicht, und die blauen Augen lächelten schelmisch. Während ich jedoch fand, er sähe wie früher aus, attestierte er mir Reife. Er sagte tatsächlich, ich sei reifer geworden. Ich beschloss sofort, dass er geistige Reife meinte, fragte allerdings nicht weiter nach.
Was soll ich sagen. Wir reden immer noch. Über seine kurze Ehe mit einer Frau, von der er ein Kind bekommen hat (ich sage dies bewusst so und nicht umgekehrt), um dessen Sorgerecht er nun kämpft. Über diesen Kampf, der ihm kaum Kraft lässt für Anderes und über ein Leben mit der ständigen Angst, sein Kind zu verlieren. Über Wege, gegangene und nicht gegangene. Über Dinge, die wir mit aller Kraft gewollt und auch getan haben, wenn auch aus den falschen Gründen. Vor allem aber lachen wir viel.
Ich habe noch immer ein wenig Angst vor seiner Schönheit. Es ist eine irritierende Schönheit, die mich bereits früher verstören konnte. Ich mag sein Lächeln. Es ist ein Lächeln, welches diese bis in die letzten Züge seines markanten Gesichtes hineingemeißelte Schönheit etwas aufzuweichen vermag.

In Berlin läuft gerade das Internationale Literaturfestival.
Zum Flughafen schaffen wir es jetzt sowieso nicht mehr.


BEITRÄGE

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Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Zuletzt aktualisiert: 7. Jun, 14:02