Tagebuch

Terpsichore schläft

Wenn die Singende in mir zu lebendig wird, an Tagen vieler Arbeit, schweigt die Schreibende. Dann ist keine Stille mehr da für das Wort. Und umgekehrt. Dieses Phänomen beobachte ich seit einiger Zeit.

Es gibt Tage, da sind nur Worte in mir. Keine Melodien. Ich habe auch keine Stimme. Kann überhaupt nicht singen. Verstehe auch nicht, wie ich überhaupt jemals habe singen können. Statt dessen: Worte. Ganze Sätze. Von unausprechlicher Schönheit. Da ich sie nicht aussprechen kann, versuche ich, sie aufzuschreiben. Doch nicht immer bleibt Gedachtes am Leben, wenn man es aufschreibt. Manches zerfällt zu Staub, wenn ich es ans Licht zerren will. Oder es entzieht sich. Verflüchtigt sich. Wie ein Duft, der vorbeiweht. Nicht erinnerbar.

Bin ich zu sehr in der Musik, geht die Sprache. Sie räumt das Feld. So muss es sein. Musik ist zu stark, zu laut. Zu mächtig. Musik hat mir immer Angst gemacht. So schrecklich und schön zugleich. Sich ihr zu entziehen, fällt schwer. Ein Sog. Ein Fluch vielleicht. Oder nein. Ein Urteil. Ich habe mich selbst verurteilt. Lebenslänglich habe ich mir gegeben. So ist es nun einmal, und es macht gar keinen Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen. Dass ich gefangen bin. Es ist natürlich der schönste Ort der Welt. Aber es ist eben, wie die Dinge nun einmal stehen, ein Gefängnis.

Die Tage, an denen ich ausbreche, sind gestohlene Tage. Ich stehle sie der Musik. Stehle mich weg von ihr und werde stumm. Ich verbringe sie im Gedachten. Im Leisen. Im leise Gedachten. Immer im Unaussprechlichen. Manchmal im Aufgeschriebenen. Vor allem aber im Unmöglichen. Das muss ich mir ganz klar sagen. Ich verbringe sie in der Unmöglichkeit einer Welt, die mein Innerstes ist. Ich bin die Asylantin meiner eigenen Seele.
Terpsichore schläft.

Kein Kaffee in W.

Es ist kurz vor zwei Uhr mittags. Die Innenstadt von W. brodelt zur Mittagsstunde von Touristen. Das ist draußen. Drinnen stehe ich am Herd und koche seit Wochen zum ersten Mal wieder selber mein Mittagessen. Ich gebe das Fleisch dazu, ganz heiß ist der Herd, und es zischt und brodelt in der Pfanne. Plötzlich ein Klick, und alles ist aus. Licht, Herd, Spülmaschine, Waschmaschine. Ich brauch nicht lange um herauszufinden, dass es nicht an meiner Sicherung liegt, die auch ab und an mal rausfliegt. Ich gehe auf die Straße. Menschen versammeln sich. Die Ladeninhaber und Cafèbesitzer kommen heraus und diskutieren. Die Stadt scheint lahmgelegt zu sein. Es sind mittlerweile 10 Minuten vergangen. Ich laufe um die Ecke zum Herderplatz, direkt neben der Kirche wird seit Tagen gebaut. Hinter einem Zaun der abgegrenzten Baustelle hocken vier ratlos aussehende Bauarbeiter. Der Bagger steht still. Aha. Die Schuldigen sind gefunden. Was ist los, frage ich? Stromkabel rausgezogen. Und da liegt das ganze Viertel lahm? Hm. Einer der Männer nickt betreten. Ich verkneife mir einen Kommentar. Sie tun mir leid, diese Arbeiter.
Nach und nach kommen andere Menschen hinzu. Ein Mann, mit Anzug und Brille und scheinbar sehr wichtig, drängt mich weg, sagt laut "Das gibt Ärger! Wo sind die? Ich will den Namen wissen!" und geht durch die Absperrung auf die Bauarbeiter zu. Die Friseurin aus dem Laden neben meiner Wohnung steht draußen, Kunden mit nassen Haaren auch, es ist irgendwie ein lustiges Bild. Der Koch vom Hotel nebenan, der Bioladen-Chef, alle haben irgendetwas, was ihnen kaputt oder verlustig gehen kann. Nur ich scheinbar nicht. Ich rege mich nicht auf, mir tun die Arbeiter leid. Ich überlege, wieviel Schadensersatz- forderungen wohl auf sie zukommen werden, und ob man gegen soetwas eigentlich versichert ist. "Gegen Dummheit gibts keine Versicherung" sagt eine Oma neben mir. Sie jammert schon seit 5 Minuten wegen ihrer Kühltruhe.
Ich solidarisiere mich jetzt mit den Bauarbeitern, die sich gegen die wütende Menge verteidigen. Sie können ja nichts dafür, dass der Havariedienst nicht kommt. Die alte Frau hört nicht auf zu zetern. Sie hat ein hartes und verwittertes Gesicht, aber kein schönes, weiches, wie das so vieler alter Menschen. Ein kaltes, mit kalten kleinen grauen Augen. Ich überlege, ob sie schon hier gelebt hat, als die Nazis im nur wenige Kilometer entfernten KZ ungehindert von den Menschen der Stadt ihr Unwesen treiben konnten.
Die Kühltruhe. Ja, die ist wichtig. Der eigene Herd ist immer das Wichtigste. Ich schaue sie an mit einem giftigen Blick, der sie verstummen lässt. Das kann ich gut.

Mittlerweile sind 40 Minuten vergangen, und von den Stadtwerken ist weit und breit kein Einsatzteam zu sehen. Havarietelefone alle besetzt. Sicher liegt der Hörer daneben. Es ist Freitag nachmittag. Das kann also dauern.

Ich hab mich nach drinnen verzogen. Mein Laptop zeigt mir gerade an, dass ich noch 15 min. Batterie habe. Dann, lieber Leser, ist auch das Schreiben zu Ende. Ich denke darüber nach, wie sehr doch alles am Strom hängt, und weiß schon, dass ich mir gleich ein Buch nehmen werde. Mein Fleisch in der Pfanne ist halb gebraten und mittlerweile fast erkaltet. Ich hätte jetzt gerne einen Kaffee. Gibts nicht. Auch nicht nebenan. Macht nichts, denke ich. Ist nicht schlimm. Deportation. Das wäre schlimm.

Ich schreib mir selber einen!

http://terpsichore.twoday.net/stories/5856473/#5877057

Klick und weg

Gestern Nacht 3 Stunden an einem Gedicht geschrieben. Gefeilt, gelötet, geschliffen. Dann, es war schon fast perfekt, die falsche Taste erwischt. Alles futsch. Natürlich keine copy. Wer kopiert schon den Mist zwischendurch. Nö, jetzt nicht nochmal, denke ich. Weg ist weg. Aber wo ist weg eigentlich? Stelle mir vor, wie irgendjemand meine im Universum verlorenengegangen Verse aus Versehen in sein Hirni bekommt und sie wiederkäuend rezitiert. Hoffentlich ist es jemand, der dialektfrei spricht. Vermute aber mal, die Chancen stehen schlecht hier in Thüringen.

Der unsichtbare Feind

C. ist 42 und offensichtlich nicht zufrieden mit ihrem Leben. Wenn sie morgens zur Arbeit erscheint, mault sie ersteinmal solange herum, bis auch alle anderen keine Lust mehr zur Arbeit haben. Kollektiv geht alles besser, auch das Jammern.
Wenn sich dann alle richtig schlecht fühlen und festgestellt haben, unter welch schrecklichen Bedingen sie arbeiten, werden sie noch trauriger. Manche haben sogar richtig Tränen in den Augen.
Ich muss vielleicht hinzufügen, dass C. nicht in einem Kohlebergwerk oder einer Chemiefabrik arbeitet, auch ist sie weder Friseurin noch Kellnerin. Sie macht sich weder die Hände schmutzig noch den Rücken krumm, wird nicht sexuell belästigt am Arbeitsplatz und sieht sich auch sonst keinen großen Anstrengungen ausgesetzt, wenn man mal von ihrer eigentlichen Tätigkeit absieht. Nehmen wir mal an, sie sitzt am Kartenschalter einer großen Konzertagentur. Ich sitze neben ihr, und das Kartenabreißen macht mir wirklich große Freude. Ich habe immerhin 8 Jahre studiert, um diesen Beruf irgendwann einmal ausüben zu können. Eine Schufterei war das, das können Sie glauben...Jedenfalls, was wollte ich sagen...
Meine Arbeit macht mir Freude. Und ich könnte zufrieden sein, wäre da nicht C., die jeden Tag mault. Was mich irgendwann zu der Frage führt: Warum geht sie denn nicht einfach?

Wir wissen immer instinktiv, was das Beste für uns ist. Wenn es uns irgendwo nicht gefällt, warum gehen wir nicht einfach woanders hin? Warum bleiben wir an Orten, wo wir nicht zu Hause sind? Warum lieben wir Männer, die anderswo zu tun haben? Warum...

Kaufen wir Schuhe, wählen wir die 38, weil wir wissen, wir haben eine 38. Kein Mensch käme auf die Idee, sich in eine 35 zu zwängen und dann fortwährend zu jammern, dass ihm der Zeh drückt. Nur mal so zum Vergleich.

Ist es nicht in unserer Natur, wie auch in der aller anderen Tiere, dahin zu gehen, wo wir am besten genährt werden? Sei es nun von Liebe, Mc Donalds oder Hochkultur? Und wenn es doch so leicht ist, (wir müssen ja nur gehen), warum tun wir es dann nicht? Wer oder was hält uns gefangen in Strukturen, die uns gar nicht passen, oder schlimmer noch, die uns gar nicht haben wollen? In denen wir Fremdkörper sind? In denen wir solange maulen, bis auch alle anderen sich dort fremd fühlen?

Mir ist schon klar, dass da unsichtbare geheime Kräfte walten. Tiefenspychologisches Gewaber sozusagen. Trotzdem muss man ihnen vielleicht einfach nur einen Namen geben. Jemand Kluges hat nämlich mal gesagt, wenn man den Feind beim Namen nennt, wird er sichtbar für uns.
Wenn ich also einen Namen hätte, müsste ich ihn nur C. verraten. Die würde dann gehen, und alle wären glücklich.
Aber irgendwer mault ja immer.


picasso

Eindeutig mehrdeutig.

Ich habe gewartet auf den Augenblick, da ich wieder anschließen kann an Terpsichores Tagebuch von vor 2 Jahren. Aber es gibt ihn nicht. Vielleicht, weil es die Frau von damals nicht mehr gibt. Es ist, als halte ich ein Seil mit zwei losen Enden in den Händen und versuche verzweifelt einen Knoten zu binden. Das aber gelingt nicht. Es würde keine wirkliche Verknüpfung geben, es wäre eine Bruchstelle, eine Schweißnaht, so unsauber und roh, dass kein Handwerker sie würde durchgehen lassen.

Heute las ich in der Dschungel im Tagebuch der Anna H.
hier: http://albannikolaiherbst.twoday.net/stories/montag-3-august-2009/
die dort schreibt, ohne Schreiberin zu sein, wie sie sagt. So ein Scheusein war darin, eine Zartheit, wie sie versuchte, sich zu rechtfertigen, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und gesagt hätte: Schreib doch! Egal. ALLE hier sind Masochisten in gewisser Weise, die meisten wissen es nur nicht. Sie würde schreiben, so sagte sie, um die Uneindeutigkeit des Menschen zu zeigen.
Ich stelle mir gerade eine Eindeutigkeit im Sein vor. Das heißt ich versuche es. Gelingt mir aber nicht. Ich frage mich, wie sich jemand fühlt, der eindeutig ist. Für mich liegt die Eindeutigkeit in meiner Vieldeutigkeit, was ja mehrdeutig ist. Zum Glück. Der Einzige, der das vielleicht bedauern könnte, ist mein Therapeut. Da fällt mir ein, ich könnte mit ihm mal über MEINEN Masochismus sprechen. Das wiederum würde mich als ausgemachte Sadistin ausweisen. Da haben wir es. Ich bin eindeutig mehrdeutig!

Eröffnung

Gutes menschliches Leben besteht nicht so sehr in dem Erreichen von Zielen als vielmehr in dem Versuch, die eigenen Leidenschaften am Leben zu halten.

Deshalb eröffne ich heute mein eigenes Weblog.
Es hat die Farbe Rosa. Das ist nicht ganz unwichtig, wie ich finde.
Es wird viele Leser vermuten lassen, ich sei blond.
Das macht nichts.

Hier kann man auch als Kommentator
Schreiben.
Dichten.
Fragen.
Antworten.
Austauschen.
Streiten.
Auch Weinen.

Auf einem weißen, unbeschriebenen Blatt.
Ohne Vorgaben. Ohne Regeln.
Außer einer:
Wer Terpsichore nachmacht oder verfälscht, oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft und in Verkehr bringt, wird bestraft.
Wie, das überlege ich mir, wenn es so weit ist.


Terpsichore


BEITRÄGE

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Terpsichore - 29. Nov, 10:28
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"Car JE est un autre." (Lettre de la clairvoyance)
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Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


fertig1

Comments

Aha,
help
Vielen lieben Dank, aber...
help

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Zuletzt aktualisiert: 7. Jun, 14:02