restauration

du meine angst
die ich bei mir trage
wie eine in fetzen
hängende bettjacke
du geprügeltes kind
meiner kindheit und
daraus erwachsener
zeit - komm!
ich näh dir den
knopf wieder an

Zuhause

Der Herbst war ihr die liebste Jahreszeit. Die Straßenmenschen wurden langsamer in ihren Bewegungen. Wenn sie in ihre Gesichter sah, schauten sie zurück. Manche mit suchendem, andere mit wissendem Blick, nie aber hastig. Die Kälte schien die Menschen einzufrieren in ihrem hektischen Gang. Warme Wollsachen, Schals und Mützen durften aus den muffigen Schränken in die frischkalte Luft und hingen nun dankbar wärmend an älteren Menschen.
Die Jugend stand noch mit offenen Krägen in kleinen Grüppchen unter den Abendlaternen und wollte das Sommerlachen festhalten.

Sie lief durch die Straßen ihres herbstbunten Städtchens und lud den Frost in ihr Gesicht ein. Sollte er sich festbeißen bis sie nach Hause käme, wo das das Feuer eine angenehme Wärme verbreitete und ihn freundlich aber bestimmt verdrängen würde.
Nach Hause. Sie sprach in Gedanken diese Worte und versuchte ihre Bedeutung zu erfassen. Wann ist man zu Hause. An der Giebelwand ihres Hauses stand in großen Buchstaben: "Zu Hause ist wo man hingeht, wenn einem die Orte ausgegangen sind." Barbara Stanwick. Vermutlich war sie viel gereist, diese Barbara.
Sie selbst hatte noch nicht allzuviel von der Welt gesehen. Und doch waren ihr beizeiten die Orte ausgegangen. Sie zog von Stadt zu Stadt, schlug überall sofort Wurzeln und wollte sogleich wieder weg. Irgendwann hatte sie bemerkt, dass es keinen Sinn machte, hin und her zu ziehen. Man musste sich doch selbst immer mitnehmen. Ihr schwerstes Gepäckstück, welches sie immer und überall mit sich herumschleppte, war sie selbst. Nie hatte sie es geschafft, sich ihrer zu entledigen. So sehr sie sich auch bemühte, und so weit sie auch reiste. Sie hing fest an sich dran. Fast wäre sie im letzten Jahr wieder umgezogen, als ihr der Gedanke kam, es müsse doch möglich sein, sich bei sich zu behalten und einen angemessen Platz für sich zu finden, in sich selbst. Vielleicht würde sie auf diese Weise bleiben können. Das Städtchen in welchem sie wohnte gefiel ihr nämlich ausnehmend gut, und nachdem keine Stadt mehr übrig war, in welcher sie nicht schon gewohnt hätte, bekam sie allmählich das Gefühl, dass ihr die Orte ausgingen.
Vielleicht ist es ja das, was man Zuhause nennt, dachte sie. Der Ort, an dem man mit sich selbst sein konnte.

Warten

Zur Zeit nur Arbeit. Keine Zeit zum Schreiben. Auch die Buchmesse musste ausfallen, worüber ich sehr traurig war. Nächste Woche wird ein wenig Luft sein. Dann kann geerntet werden, was innerlich schon wieder reif ist. Solange muss es noch warten, und ich auch.

Die Verkündung

findet heute hier >>>>>> statt.

Vermutung

Was weiß denn ich
was der Käfer weiß
über sich selbst
wenn er langsam durch
das Kartoffelfeld kriecht.

Vermutlich weiß er
mehr über mich
als über sich selbst
wenn ich ihm ein
Bein rausreiße.

So wie auch ich
mehr über dich weiß
als über mich selbst
wenn du mich
in deine Hände nimmst.

Ich werde durch mich
über mich überhaupt
nichts erfahren.
Morgen werde ich den
einbeinigen Käfer befragen.

Das Unaussprechliche

Die Tür fällt ins Schloß.
Stille. Sie bemerkt, eine lange Leere ist mit ihr in diesem Zimmer. Irgendwann kommt die Zeit zurück und tritt gleichsam in ihr Bewußtsein. Dann der Moment, in welchem sie wieder zu atmen beginnt. Zeit und Atem gehören zusammen, bemerkt sie. Sie nimmt wahr, daß sich ihr Körper in diesem Zimmer, auf diesem Bett befindet. Sie muß also am Leben sein. Sie ist sich nicht sicher. Die Zeit füllt jetzt den ganzen Raum und nimmt den Platz dessen ein, der gegangen ist.

Die Zeit war nie ihr Feind gewesen. Der Feind hat einen anderen Namen, den sie nicht nennen will, denn bereits das Aussprechen seines Namens kann ihn zum Kampf reizen. Ein Augenblick der Ruhe ihrerseits oder eine kleine Unaufmerksamkeit öffnen ihm das Tor zu seinem Kampfplatz. Dann betritt er die Arena, überzieht ihren Körper mit Krieg und legt Brand in den Feldern ihrer Seele.

Am Anfang kam es vor, daß sie ihn nicht sogleich erkannte und deshalb unvorbereitet war. Oder, ein verheerender Irrtum, einen harmlosen Gegner vermutete. Dann war der Kampf kurz, und sie blieb mit zerschmetterten Knochen auf dem Schlachtfeld liegen.

Selten, aber es geschah hin und wieder, so wie heute, da kam jemand, der nahm ein kleines Gefäß, öffnete es und lies daraus etwas in ihre Wunden rieseln. Dann half ihr die Zeit wie eine Verbündete, denn in dem Maße, wie sich der Schmerz ausbreitete, zog sie sich zusammen, bis Vergangenheit und Zukunft an einem Punkt im Jetzt zusammentrafen. Das war der Zeitpunkt ihrer Erlösung. Ein Akt der Gnade, den ihr die Zeit gewährte. Sie wurde aus sich selbst verstoßen und einer anderen Sphäre anheim gegeben, in welcher der Feind keine Macht über sie hatte. Nun konnte sie ihn in Ruhe betrachten. Er war nicht mehr als ein Zeichen. Eine Schrift, die langsam verblasste. Sie verstand nicht, wie ihr etwas derart Einfaches so gefährlich sein konnte. Das Unaussprechliche ballte sich zu einem Laut in ihrer Kehle, und mit einem langen Schrei spie sie ihn aus sich heraus. Da lag es vor ihr auf dem Boden und zerfiel langsam zu Staub.

Sie lauschte. Da war nichts. Außer der Zeit, welche langsam den Raum füllte, den Staub auf dem Boden übersah und ihren Körper bis an seine Ränder einnahm.

Vorstellung

Angeregt von >>>p.`s Ausgrabungen seiner ersten Gedichte suchte ich heute eines meiner ersten Tagebücher heraus, in welchem ein Zettel eingeklebt ist mit meinem ersten Gedicht. Es ist kein selbst verfasstes, sondern ein Geschenk von einem Jungen. Ich war 16, und wir lernten uns während einer Klassenfahrt in einer Jugendherberge kennen. In der letzten Nacht stahl er sich heimlich in unser Zimmer, das war damals mehr als tollkühn, meine Freundin machte diskret Platz im Doppelbett, und wir saßen uns die halbe Nacht lang gegenüber, jeder eine Flasche Bier in der Hand, und redeten darüber, was wir vom Leben erwarteten. Er wollte studieren und Lehrer werden. Ich wollte gar nichts, außer meine Ruhe, das Ende der Schule und den Weltfrieden. Zum Abschied gab er mir einen kleinen Zettel in die Hand, den ich erst nach seiner Abreise lesen sollte. Es war unten stehendes Gedicht.
Damals begriff ich natürlich nichts von der philosophischen Bedeutung seiner Worte, mich interessierte hauptsächlich, ob ich nun gemeint war oder nicht, und dass dem 3. Fall die Endung fehlte. Der letzte Satz blieb mir allerdings im Gedächtnis und hat mich wie eine Mahnung immer wieder verfolgt. So hat mir nicht nur meine eigene Vorstellung von Anderen oft die Freude an ihnen versagt. Auch die Vorstellung darüber, wie ich zu sein habe, wirkt, wenn sie mit der Muttermilch aufgesogen, wie ein schleichendes Gift lebenslang. Das zu erkennen, die Fäden zu durchtrennen, die uns gebunden fühlen lassen an Wertvorstellungen und Maßstäbe, die nie unsere eigenen waren und es nie sein können, ohne die Verbindung zu den Geliebten selbst zu durchtrennen, ist immer wieder ein kleines Abenteuer. So wird mich mein erstes Liebesgedicht vermutlich bis an mein Lebensende begleiten, wenn sein Sinn mittlerweile auch eine ganz andere Bedeutung für mich hat.


Vorstellung

Wie soll sie sein?
Sie soll schön sein.
Sie soll schwarzes, langes Haar tragen.
Ihr Mund soll anziehend sein.
Ihr Körper soll reizvoll sein.
- Ja, so soll sie sein!
Doch ist es nicht gerade die Vorstellung, die dem Mensch
manch Freude des Lebens versagt?

S.L., 24.2.1986

Verführung

Ein Geliebter ist der Herbst.

Er führt mich zum Tanz auf das Laub,
und wenn ich den faulenden Äpfeln im Gras glauben kann,
ist der Tod süß.

Es drängt mich aufs würzige Blätterbett.
Die Erde zieht an mir wie kein Liebhaber, und der Himmel
drückt mir die Augen zu.

Absichtslos fällt das Geschenk seines Samens
auf mein Gesicht.
Fiele ich doch auch so leicht vom Zweig.

Komm unter mein Herz und ritz mir
was Bleibendes ein.
Der Stamm dort trägt doch auch zwei Namen!

Poetry Night II - und ein Abend mit L.

Wir kamen zwei Minuten zu spät >>>> und verpassten die erste Lesung von
Fadhil Al-Azzawi (Irak), was insofern schade war, dass dieser Autor mich am meisten interessiert hätte. Als nächstes las Gerhard Falkner, von dem mir das Letzte, was er las, am nächsten war. "The linguistik turn" - Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs. Abwendung ins Innere, Suche, Dekonstruktion des Pathos, mir gefiel dieses unveröffentlichte und sogar unfertige, wie er selbst sagte, Gedicht viel besser als die "Hölderlin-Reparaturen", die sich mir beim Zuhören schräg stellten.
Von Coral Bracho wird mir die Stimme in der Erinnerung bleiben. Sie sprach ihre Gedichte nicht, sie sang sie. Alles war Klang, Sprachklang, Sprachmelodie. Sehr schade, dass die deutsche Übersetzerin eine trockene Lesart mit fragil-kratziger Stimme hatte, ich weiß nicht, ob das die Aufregung war oder die Trockenheit im Raum, jedenfalls störte es mich, dass es nicht floss. Zumal es im längsten und für mich schönsten Gedicht um das Wasser ging.
Das absolute Highlight des Abends aber war Nora Iuga aus Rumänien, die zu Anfang die Frage stellte, ob Gedichte auch altern, wie die Frauen. Deshalb las sie Gedichte, die sie mit 35, dann mit 55, später mit 75 Jahren geschrieben hatte und forderte das Publikum anschließend zur Diskussion heraus. Die Männer riefen natürlich: Ja! Gedichte altern. Ich fand dies nicht. Wobei die Gedichte der 75jährigen um ein Vielfaches erotischer waren als die der 35-jährigen Dichterin. So viel Kraft und Sinnlichkeit versprühte diese Dame da auf der Bühne, und ja, sie war nicht trotz sondern gerade wegen ihres Alters als schön zu bezeichnen, schöner als viele 30jährige, sie schlenkerte nervös mit den Beinen, sprang ab und an auf, gestikulierte mit den Händen, ihr Gesicht war lebendig, ihre Augen lachten, ihre Stimme war eine einzige Modulation - sie las ihre Gedichte selbst in deutscher Übersetzung - das war faszinierend - so etwas habe ich selten erlebt. Sie war getragen von ihrem inneren Feuer. Ansteckend. Und der Gedanke: so ist Altwerden schön. So will auch ich alt werden.
Danach gabs noch ein Gespräch mit Arundhati Roy, mit welcher das Festival auch eröffnet wurde. Viel Gedränge im Foyer. Wäre B. nicht zu hungrig gewesen, hätte ich ihn auch dazu gedrängt, so gingen wir zum Lieblings-Vietnamesen am Savigny-Platz und saßen dort noch lange nach dem Essen bei einem Gläschen Wein in Decken gehüllt zusammen draußen und sprachen gar nicht mehr soviel. Sich im gemeinsamen Schweigen verbunden fühlen, das ist etwas, was ich mit wenigen Freunden teilen kann, also genoss ich es ausgiebig.

Heute abend geht es unter anderem >>>> hierhin.

Jetzt aber erstmal: Käffchen! Und dann: Flug umbuchen. Retten, was noch zu retten ist, also finanziell. Das Hotel rief auch an, wo ich bliebe.
Ich muss mir jetzt bis heute abend überlegen, wo ich als nächstes hinfliege, sonst verfällt der Rückflug komplett. Was nicht so einfach ist ohne Kenntnis des "Dienstplanes", auf den ich hier am fremden Rechner keinen Zugriff habe, weshalb ich Kollegen anrief, die mir netterweise halfen. Eine Idee habe ich ja schon, und sie scheint auch umsetzbar. Tel Aviv. Ich muss mich nur entscheiden. So wie gestern.

Nachtrag
Nach der Lesung des lib noch zu einer Lesung von L. gefahren nach Moabit. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, dass im Publikum ein ehemaliger Richter vom Landesgericht Berlin saß. "Immer auf der anderen Seite", wie er später im Gespräch betonte, schien er doch ein heimliches Vergnügen darin zu finden, ins Leben derer einzutauchen, die Grenzen gerne und bewusst übertreten. Jedenfalls leuchteten seine Augen, als er über Jack B. sprach, dessen Biografie L. gerade schreibt. Er hatte ihn noch persönlich gekannt, durch ein Beweisverfahren. Eine Verwandte von Jack B. verehrte ihn so, dass sie jeden Zentimeter der Wohnung mit Zeitungsartikeln von ihm zugenagelt hatte. Als man beim Auszug die Bilder entfernen wollte, gab es praktisch keinen Putz mehr, da er Loch an Loch einfach abfiel. In dem Beweisverfahren nun musste Jack B. selbst antreten, und der Richter erzählte nicht ohne Stolz davon, dass er ihn persönlich kennenlernen durfte. Was ihm beim Bewusstwerden dieser Tatsache ein wenig verschämt erröten lies. Da standen sie sich nun gestern gegenüber. Der ehemalige Millionendieb und jetzt Autor - und der Richter. Und sprachen über Literatur.

Kreuzungen

Es ist 10.00 Uhr. In einer Stunde geht mein Flieger nach Mailand. Ich müsste längst eingecheckt haben. Statt dessen sitze ich hier, auf dem Sofa bei B. in Berlin.

B. war meine erste "große" Liebe, damals, vor meinem Studium. Wobei ja jede Liebe jeweils die große ist, jedenfalls empfindet man das währenddessen so. Im Nachhinein muss ich sagen: es war eine der intensivsten.
Wir lernten uns beim Theaterspielen kennen. Die klassische Variante: Liebespaar spielt Liebespaar und verliebt sich ineinander. Wir spielten sozusagen weiter, nachdem das Stück längst abgesetzt war. Bis B. für ein Engagement ans Theater nach K. ging. Den handschriftlichen Briefen, die mich von dort erreichten, fehlte allerdings der tragische Tonfall, den ich mir von einem Geliebten erwartet hatte, der schließlich gezwungen war, fernab von mir sein Dasein zu fristen. Das muss mich so geärgert haben, dass ich aufhörte, sie zu beantworten. Behauptet B. Genau wissen wir beide nicht, warum wir uns damals eigentlich trennten. Jedenfalls haben wir uns irgendwann aus den Augen verloren.

12 Jahre später leben wir in der Welt von Facebook und Stayfriends. Es ist quasi unmöglich, jemanden aus den Augen zu verlieren, es sei denn, er lebt völlig abgeschnitten an einem Ort der Welt ohne Internet oder bedient sich dessen nicht. Die Vergangenheit mit B. klopfte in Form einer Nachricht in meinem Facebook-Postfach an: "B. möchte Sie gerne zu seinen Freunden hinzufügen." Prima, dachte ich, endlich macht dieses Zeugs mal Sinn. Es melden sich ja oft genug Gestalten, die man lieber für immer verloren geglaubt hätte. In diesem Fall war das nicht so, und wir telefonierten am nächsten Tag miteinander. Es war schnell klar, dass wir - die wir beide viel und gerne erzählen - dies nicht am Telefon bewältigen würden. Wir mussten uns also "mal treffen."
Da mein Flieger nach Mailand heute von Berlin geht, bot es sich an, einfach eher zu fahren und B. dort noch zu treffen.

Als er mir gestern die Tür öffnete, war ich überrascht. Ich hatte erwartet, ihn älter vorzufinden. Ich suchte nach kleinen Anzeichen des Verfalls, aber er hat sich kaum verändert, bis auf ein paar Lachfältchen um die Augen. Sein blondes Haar fiel ihm ins Gesicht, und die blauen Augen lächelten schelmisch. Während ich jedoch fand, er sähe wie früher aus, attestierte er mir Reife. Er sagte tatsächlich, ich sei reifer geworden. Ich beschloss sofort, dass er geistige Reife meinte, fragte allerdings nicht weiter nach.
Was soll ich sagen. Wir reden immer noch. Über seine kurze Ehe mit einer Frau, von der er ein Kind bekommen hat (ich sage dies bewusst so und nicht umgekehrt), um dessen Sorgerecht er nun kämpft. Über diesen Kampf, der ihm kaum Kraft lässt für Anderes und über ein Leben mit der ständigen Angst, sein Kind zu verlieren. Über Wege, gegangene und nicht gegangene. Über Dinge, die wir mit aller Kraft gewollt und auch getan haben, wenn auch aus den falschen Gründen. Vor allem aber lachen wir viel.
Ich habe noch immer ein wenig Angst vor seiner Schönheit. Es ist eine irritierende Schönheit, die mich bereits früher verstören konnte. Ich mag sein Lächeln. Es ist ein Lächeln, welches diese bis in die letzten Züge seines markanten Gesichtes hineingemeißelte Schönheit etwas aufzuweichen vermag.

In Berlin läuft gerade das Internationale Literaturfestival.
Zum Flughafen schaffen wir es jetzt sowieso nicht mehr.

Terpsichore schläft

Wenn die Singende in mir zu lebendig wird, an Tagen vieler Arbeit, schweigt die Schreibende. Dann ist keine Stille mehr da für das Wort. Und umgekehrt. Dieses Phänomen beobachte ich seit einiger Zeit.

Es gibt Tage, da sind nur Worte in mir. Keine Melodien. Ich habe auch keine Stimme. Kann überhaupt nicht singen. Verstehe auch nicht, wie ich überhaupt jemals habe singen können. Statt dessen: Worte. Ganze Sätze. Von unausprechlicher Schönheit. Da ich sie nicht aussprechen kann, versuche ich, sie aufzuschreiben. Doch nicht immer bleibt Gedachtes am Leben, wenn man es aufschreibt. Manches zerfällt zu Staub, wenn ich es ans Licht zerren will. Oder es entzieht sich. Verflüchtigt sich. Wie ein Duft, der vorbeiweht. Nicht erinnerbar.

Bin ich zu sehr in der Musik, geht die Sprache. Sie räumt das Feld. So muss es sein. Musik ist zu stark, zu laut. Zu mächtig. Musik hat mir immer Angst gemacht. So schrecklich und schön zugleich. Sich ihr zu entziehen, fällt schwer. Ein Sog. Ein Fluch vielleicht. Oder nein. Ein Urteil. Ich habe mich selbst verurteilt. Lebenslänglich habe ich mir gegeben. So ist es nun einmal, und es macht gar keinen Sinn, sich darüber hinwegzutäuschen. Dass ich gefangen bin. Es ist natürlich der schönste Ort der Welt. Aber es ist eben, wie die Dinge nun einmal stehen, ein Gefängnis.

Die Tage, an denen ich ausbreche, sind gestohlene Tage. Ich stehle sie der Musik. Stehle mich weg von ihr und werde stumm. Ich verbringe sie im Gedachten. Im Leisen. Im leise Gedachten. Immer im Unaussprechlichen. Manchmal im Aufgeschriebenen. Vor allem aber im Unmöglichen. Das muss ich mir ganz klar sagen. Ich verbringe sie in der Unmöglichkeit einer Welt, die mein Innerstes ist. Ich bin die Asylantin meiner eigenen Seele.
Terpsichore schläft.

Kein Kaffee in W.

Es ist kurz vor zwei Uhr mittags. Die Innenstadt von W. brodelt zur Mittagsstunde von Touristen. Das ist draußen. Drinnen stehe ich am Herd und koche seit Wochen zum ersten Mal wieder selber mein Mittagessen. Ich gebe das Fleisch dazu, ganz heiß ist der Herd, und es zischt und brodelt in der Pfanne. Plötzlich ein Klick, und alles ist aus. Licht, Herd, Spülmaschine, Waschmaschine. Ich brauch nicht lange um herauszufinden, dass es nicht an meiner Sicherung liegt, die auch ab und an mal rausfliegt. Ich gehe auf die Straße. Menschen versammeln sich. Die Ladeninhaber und Cafèbesitzer kommen heraus und diskutieren. Die Stadt scheint lahmgelegt zu sein. Es sind mittlerweile 10 Minuten vergangen. Ich laufe um die Ecke zum Herderplatz, direkt neben der Kirche wird seit Tagen gebaut. Hinter einem Zaun der abgegrenzten Baustelle hocken vier ratlos aussehende Bauarbeiter. Der Bagger steht still. Aha. Die Schuldigen sind gefunden. Was ist los, frage ich? Stromkabel rausgezogen. Und da liegt das ganze Viertel lahm? Hm. Einer der Männer nickt betreten. Ich verkneife mir einen Kommentar. Sie tun mir leid, diese Arbeiter.
Nach und nach kommen andere Menschen hinzu. Ein Mann, mit Anzug und Brille und scheinbar sehr wichtig, drängt mich weg, sagt laut "Das gibt Ärger! Wo sind die? Ich will den Namen wissen!" und geht durch die Absperrung auf die Bauarbeiter zu. Die Friseurin aus dem Laden neben meiner Wohnung steht draußen, Kunden mit nassen Haaren auch, es ist irgendwie ein lustiges Bild. Der Koch vom Hotel nebenan, der Bioladen-Chef, alle haben irgendetwas, was ihnen kaputt oder verlustig gehen kann. Nur ich scheinbar nicht. Ich rege mich nicht auf, mir tun die Arbeiter leid. Ich überlege, wieviel Schadensersatz- forderungen wohl auf sie zukommen werden, und ob man gegen soetwas eigentlich versichert ist. "Gegen Dummheit gibts keine Versicherung" sagt eine Oma neben mir. Sie jammert schon seit 5 Minuten wegen ihrer Kühltruhe.
Ich solidarisiere mich jetzt mit den Bauarbeitern, die sich gegen die wütende Menge verteidigen. Sie können ja nichts dafür, dass der Havariedienst nicht kommt. Die alte Frau hört nicht auf zu zetern. Sie hat ein hartes und verwittertes Gesicht, aber kein schönes, weiches, wie das so vieler alter Menschen. Ein kaltes, mit kalten kleinen grauen Augen. Ich überlege, ob sie schon hier gelebt hat, als die Nazis im nur wenige Kilometer entfernten KZ ungehindert von den Menschen der Stadt ihr Unwesen treiben konnten.
Die Kühltruhe. Ja, die ist wichtig. Der eigene Herd ist immer das Wichtigste. Ich schaue sie an mit einem giftigen Blick, der sie verstummen lässt. Das kann ich gut.

Mittlerweile sind 40 Minuten vergangen, und von den Stadtwerken ist weit und breit kein Einsatzteam zu sehen. Havarietelefone alle besetzt. Sicher liegt der Hörer daneben. Es ist Freitag nachmittag. Das kann also dauern.

Ich hab mich nach drinnen verzogen. Mein Laptop zeigt mir gerade an, dass ich noch 15 min. Batterie habe. Dann, lieber Leser, ist auch das Schreiben zu Ende. Ich denke darüber nach, wie sehr doch alles am Strom hängt, und weiß schon, dass ich mir gleich ein Buch nehmen werde. Mein Fleisch in der Pfanne ist halb gebraten und mittlerweile fast erkaltet. Ich hätte jetzt gerne einen Kaffee. Gibts nicht. Auch nicht nebenan. Macht nichts, denke ich. Ist nicht schlimm. Deportation. Das wäre schlimm.

Sicher

Auf der sicheren Seite
war ich immer.
Auf die sichere Seite
wollte ich immer.
Sicher vor Krankheit,
vor Unfall und Keimen,
vor Armut und Tod...
Auch vor der Liebe.

Wenn ich jetzt mich hin-
und aufgeben will,
weil ich muss:
Das Samtige da gibt
leichter nach, es wehrt
dem Drängen nicht.

All meine Wünsche
aber, mein Fühlen,
auch Ängste und Schmerzen,
davon zu sagen ist
ungleich schwerer
als öffnen den Leib.

Ein Anderes haben wir dann.
Nichts Sicheres – niemals!
Doch etwas, das uns
verbunden sein lässt
über alle Gefahren hinaus.
Soviel ist sicher.

Kapitel 9

"Hier ist der Baum, o König, den du meinst,
Den meine Schwester manche Nacht besucht;
Das Haupt anlehnend, pflegt sie dann zu schlummern."


Sie liebte das Dunkel, und die Nacht war ihre Verbündete, denn nur innerhalb des Dunkels, das sich wie ein weicher Mantel schützend um ihren Körper legte, konnte sie so etwas wie Geborgenheit empfinden. Nie schloss sie von selbst die Augen, wenn die Nacht hereinbrach. So gewöhnten sie sich langsam an das Dunkel im Zimmer, und mit der Zeit lernte sie, die feinen Umrisse so genau wahrzunehmen, dass sie, wenn sie nachts durch ihr Zimmer ging, dies mit einer Sicherheit tat, die ihr tagsüber gänzlich fehlte.

Während andere Kinder die Dunkelheit mieden, ja sogar Angst vor ihr hatten, begab sie sich bei jeder möglichen Gelegenheit in dieselbe. So wurde das Kind desöfteren in einem staubigen Kohlenkeller oder einem Holzschuppen gefunden, nachdem man stundenlang nach ihm gesucht hatte. Und weil man nicht glauben wollte, dass es sich selbst darin eingesperrt hatte, das Kind aber keine Auskunft geben wollte oder konnte, wie es da hineingelangt war, vermutete man bald einen bösen Streich anderer Kinder und stellte es unter besondere Aufsicht. So hineingestellt in eine ihm fremde Landschaft mit anderen Körpern verbüßte es die Tage im Licht und wartete sehnsüchtig darauf, dass es dunkel wurde.

Ob sie sich je gefragt habe, warum sie dieses seltsame Wesen an den Tag legte.
Sie wüsste darüber nichts zu sagen. Sie wüsste nur, dass jenes Gefühl einer immerwährenden möglichen Zerstörbarkeit, welches sie bei Tag zwischen all den Menschen, Dingen und Geräuschen befiel, zu ihr gehöre, seit sie eine Erinnerung an sich selbst habe.

Als wir das Café verließen, war es bereits dunkel geworden, und während ich angestrengt zu Boden schaute, um mit meinen Absätzen nicht zwischen das Kopfsteinpflaster zu geraten, lief sie leicht und sicheren Schrittes neben mir.

Rätsel

Er drehte sich zu mir.
Ich sah seinen Leib
von Striemen durchzogen
mit Nadeln zerstochen.
Sein Augenweh schoss mir
ins Blut.

Ich gab ihm zu trinken.
In gierigen Schlucken
soff er das Wasser.
Sein schmutziger Bart
hing darinnen.
Wer bist du?

Ich streichelte ihm das
rostbraune Fell, es hing
so in Fetzen, im Kot lag sein
Schweif, der einst prächtig
gewesen sein musste. -
Was tut ihr?

So sei es geboten
zu handeln an Feinden!
An allem, was schlecht und
verderbt sei. - Ich aber fragte:
Seht ihr denn nicht,
dass es weint?

Und selber begann ich
verzweifelt zu weinen, ob
niemand denn käme zu helfen?
Und flehte und bat keinen Gott
um Erwachen!
Wo war ich?


BEITRÄGE

Die Andere
Wir sind viele und...
Terpsichore - 29. Nov, 10:28
...
So, what would Wittgenstein...
Terpsichore - 17. Jan, 09:39
"Lettre du voyant" muss...
"Lettre du voyant" muss es richtig heißen. Die verflixten...
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 19:30
Rimbaud
"Car JE est un autre." (Lettre de la clairvoyance)
il re di nevrosi (Gast) - 6. Sep, 14:55
Vielleicht ist das so....
Vielleicht ist das so. Vielleicht kommt es bei einer...
Terpsichore - 22. Aug, 10:22


Das Weblog TERPSICHORE wird vom Deutschen Literaturarchiv Marbach archiviert und der Öffentlichkeit auch andernorts zugänglich gemacht. Mitschreibende erklären sich einverstanden.


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Vielen lieben Dank, aber...
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